Redebeitrag Seebrück Jena Aktionstag

Jena, 08.04.21

Liebe Leute,
wir, die Gruppe „NSU-Komplex auflösen/Jena“, freuen uns heute hier zu sein und wir unterstützen die Forderungen der Seebrücke Jena mit Nachdruck.
Wir wurden angefragt einen Redebeitrag zu halten – das möchten wir gerne tun. Dabei kann man sich vielleicht fragen: Was hat der NSU eigentlich mit der Seebrücke zu tun? Worin bestehen die Verbindungen zwischen den Forderungen der Seebrücke nach sicheren Häfen sowie Seenotrettung und dem rechtsterroristischen Netzwerk des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, das sich in 1990er Jahren hier in Jena gründete und in den Folgejahren bundesweit mindestens 10 Menschen erschoss sowie mehrere Bombenanschläge und Überfälle verübte?


Man könnte allgemein darauf antworten, dass der NSU-Komplex immer noch aktuell ist, da er ja nie richtig aufgeklärt wurde. Dass immer noch viele Fragen der Angehörigen der Opfer offen sind und viele ihrer Forderungen bis heute unerfüllt. Und dass der NSU-Komplex für viele Dinge steht, die auch heute noch drängend sind: das Zusammenwirken des eliminatorischen Rassismus der Nazis und des institutionellen Rassismus in den Behörden, die Verstrickungen der Geheimdienste und die blinden Flecken der Mehrheitsgesellschaft. Das ist alles richtig. Und natürlich zeugen die rassistischen und antisemitischen Attentate der letzten Jahre, wie in Hanau und Halle, von der fortgesetzten Gefahr, die vom Rechtsterrorismus ausgeht.
Wir denken aber, dass es noch weitere historische Parallelen zur heutigen Situation gibt:

Der NSU politisierte sich in den 1990er Jahren. In dieser Zeit fanden in Deutschland eine Vielzahl rechter und rassistischer Anschläge statt, die in pogromartigen Angriffen auf die Wohnhäuser von Migrant*innen, Geflüchtetenunterkünfte oder Wohnheime für ehemalige Vertragsarbeiter*innen gipfelten, und die mit den Orten Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen verknüpft sind. Die Politik reagierte darauf u.a. damit, dass sie mit dem sogenannten „Asylkompromiss“ das Recht auf Asyl in Deutschland faktisch abschaffte. Für die Nazis bedeutete dies, dass die rechte Hetze und die Gewalt auf der Straße noch politisch belohnt wurden. In diesem gesellschaftlichen Kontext und mit dieser hintergründigen Erfahrung gründete sich der NSU.

Auch in den letzten Jahren erlebten wir nach dem Sommer der Migration in den Jahren 2015ff. eine ganze Serie von rechten Anschlägen – und 2019 gab es immer noch über 1600 Angriffe auf Geflüchtete und über 100 auf Geflüchtetenunterkünfte. Mit der AfD entstand eine Partei, welche die Faschisten auch in die Parlamente bringt. Und wieder reagiert die herrschende Politik mit Abschottung auf die Flucht von Menschen aus Elend und Krieg. Und sie kuscht vor der AfD.
Aber die 1990er Jahre haben gezeigt, dass die politische Konsequenz auf rechte Mobilisierung kein Entgegenkommen sein darf. Faschisten hören nicht auf Faschisten zu sein, wenn man ihnen noch Blumen auf den Weg streut. Man schwächt sie nicht, indem man ihnen Zugeständnisse macht und ihre Forderungen für sie erfüllt. Gestern wie heute werden Rechtsterroristen, wie auch die Attentäter von Hanau oder Halle, von entsprechenden Auffassungen ermutigt und motiviert, die auch aus der Mehrheitsgesellschaft und der Mitte der Gesellschaft kommen. Was stattdessen gefordert ist: klare Kante gegen rechts und die Ermöglichung einer menschenfreundlichen Flucht- und Migrationspolitik.
Auch hinsichtlich des Handelns von staatlichen Sicherheitsbehörden können einige Parallelen gezogen werden. Im NSU-Komplex wurden die Familien der Opfer von der Polizei verdächtigt selbst etwas mit den Morden zu tun gehabt zu haben. Sie seien in die Mafia, in Drogengeschäfte, in den türkisch-kurdischen Konflikt oder jedenfalls in irgendetwas verstrickt, was die Tötung ihrer Angehörigen erkläre. Rassismus und Nazis wurden hingegen nicht ernsthaft als Motiv und Täter in Erwägung gezogen. Man kann sagen: im NSU-Komplex haben die Sicherheitsbehörden für die (post-)migrantischen Communities vielmehr Unsicherheit als Sicherheit gestiftet. Und auch heute haben wir mit Frontex eine sogenannte Sicherheitsbehörde, die im staatlichen Auftrag Grenzschutz betreibt. Doch für wen wird hier Sicherheit hergestellt? Und für wen Unsicherheit? Ganz klar: der Rassismus ist hier institutionalisiert und Teil von Behördenhandeln.

Kommen wir zu den politischen Konsequenzen:
Die Stadt Jena wird in diesem Jahr – 10 Jahre nach dem öffentlichen Bekanntwerden des NSU – ein groß angelegtes Theater- und Kulturveranstaltung zum Thema abhalten. „Kein Schlussstrich unter den NSU“ lautet das Motto! Das ist zu begrüßen, aber es nichts, was allein in den Kultureinrichtungen verbleiben und nur auf Theaterbühnen und Podien stattfinden kann! „Kein Schlussstrich unter den NSU“ heißt auch: die Stadt Jena soll sich öffentlich stark machen für Seenotrettung; sie soll sich klar gegen rechte Hetze und die AfD positionieren; sie soll gegenüber der Landesregierung und dem Bundesinnenministerium deutlich machen, dass sie sich an der Evakuierung der griechischen Elendslager beteiligt; und sie soll ihrer Verantwortung als „Sicherer Hafen“ endlich konkret gerecht werden und laut sagen: „Wir haben Platz“, von der Spitze der Stadtverwaltung bis in die Jugendzentren.

Danke für eure Aufmerksamkeit!