“Das es so weiter geht, ist die Katastrophe” – Kundgebung gegen rechten Terror – 09.10.2020

Ich spreche im Namen der Jenaer Ortsgruppe des bundesweiten Bündnisses NSU-KOMPLEX AUFLÖSEN. Wir möchten im Redebeitrag Parallelen zwischen dem NSU-Komplex und dem antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle ziehen, um Kontinuitäten zu verdeutlichen und Schlüsse daraus abzuleiten.

Als am 11.07.2018 das Urteil im Münchner NSU-Prozess gesprochen wurde, klatschten Neonazis im Gerichtssaal, waren doch die angeklagten Mitglieder des NSU mit milden Strafen davon gekommen. Bereits von Beginn an musste das Aufklärungsvermögen dieses Strafprozesses als gering angesehen werden, da die Bundesstaatsanwaltschaft davon ausging, dass das Kerntrio des NSU die Morde und Anschläge isoliert geplant und durchgeführt habe. Versuche der Nebenklage, welche die Betroffenen des NSU vertrat, die großen neonazistischen Unterstützungsnetzwerke und staatliche Verstrickung aufzuklären wurden durch das Gericht erschwert und teils verunmöglicht. Neben dem Prozessgeschehen leisteten antifaschistische Initiativen und Recherchen wie z.B. NSU-Watch und das Tribunal NSU-KOMPLEX AUFLÖSEN, aber auch kritische Journalist*innen und Untersuchungsausschüsse entscheidende Aufklärungsarbeit. Ihnen ist es zu verdanken, dass die rassistische und neonazistische Ideologie der Täter*innen und ihres Netzwerkes über den gesamten Prozess hin sichtbar blieben und als Teil eines rechten Netzwerkes zu begreifen sind. Im Urteil findet sich hingegen keine Erwähnung der Publikationen, Ideologien und Konzepte der Nazi-Szene, die maßgeblich zur Entstehung und Ausrichtung des NSU beigetragen haben.
Doch trifft ein Umstand die Hinterbliebenen und Betroffenen nach dem Verlust ihrer Angehörigen, jahrelangen Verleumdungen und Strapazen des Prozesses besonders hart. Abdulkerim Şimşek sagte jüngst zur Platzweihe des Enver-Şimşek-Platzes in Winzerla: „In den 3025 Seiten des Urteils kommt mein Vater als Mensch überhaupt nicht vor. Dass er ein Familienvater war, dass er ein Ehemann war, dass er 38 Jahre alt war – nichts – nichts über ihn. Darüber welche Folgen die Tat für uns hatte – nichts.“
Dieses Unsichtbarmachen der Perspektive und der Leben von Betroffenen von rechtem Terror, gepaart mit der Ignoranz und dem Unverständnis gegenüber der Ideologie und den Netzwerken hinter den Täter*innen ist symptomatisch für den Umgang mit rechtem Terror in Deutschland. Er ermöglicht Täter*innen, Gerichtsprozesse sogar noch als Bühne für ihre ideologische Weltsicht zu nutzen.

Seit dem 22.07.2020 läuft der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Über 40 Nebenkläger*innen sind im Prozess vertreten.
Mag sich die Tatbegehung des Angeklagten von der des NSU unterscheiden, so sind dennoch Parallelen zu erkennen und Schlussfolgerungen zu ziehen.

Zu erst ist da die Kontinuität antisemitischer und rassistischer Taten in Deutschland zu benennen. Antisemitische Taten standen auch am Beginn des NSU: Dem NSU werden Friedhofsschändungen, die Störung von Gedenkveranstaltungen an die Shoah und öffentlich aufgehängte Puppen mit Davidstern zugeordnet. Kurz vor dem ersten Mord an Enver Şimşek im Jahr 2000 erkannte ein Wachmann der Synagoge Rykestraße in Berlin mutmaßlich Beate Zschäpe beim Ausspähen der Synagoge. Diese Taten, als auch der antisemitische Anschlag in Halle sind daher keine Einzelfälle, sie sind die Fortsetzung einer langen Liste von Taten wie der Ermordung des Rabbiners und Verlegers Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke durch Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann 1980, oder dem Anschlag in Düsseldorf-Wehrhahn auf jüdische Sprachschüler*innen 2000.

Wir erwarten von dem Prozess in Halle erstens: Die unmissverständliche Einordnung des ideologischen Hintergrundes des mutmaßlichen Täters, die umfassende Aufklärung seiner Netzwerke. Diese Verantwortung darf nicht auf die Betroffenen und ihre Nebenkläger*innen und die Prozessbegleitung abgewälzt werden. Genau wie der NSU kein Trio war, handelt es sich beim Anschlag in Halle nicht um einen Einzeltäter. Der mutmaßliche Täter hatte ein digitales Netzwerk, reale Kontakte, bildete sich ein, Vollstrecker eines imaginierten Volkswillens zu sein und konnte sich mindestens der Gleichgültigkeit seines Umfeldes in Bezug auf seine politischen Ansichten sicher sein.
Dem mutmaßlichen Täter ging es in erster Linie um die Propagierung der Tat. D.h. der Prozess darf zweitens nicht auch noch zur Bühne für die antisemitische und rassistische Ideologie des Täters werden. Hier gilt es, ihm entschlossen und konsequent entgegenzutreten, ihn des Wortes zu beschneiden. Wir müssen nicht mit Rechten reden um ihre Ideologie offenzulegen. Raum sollte hingegen die Perspektive der Betroffenen haben. Ihnen muss zugehört werden, ihr Schicksal, aber auch ihr mutiges Handeln gegen den Täter muss umfassend Erwähnung im Gerichtssaal finden. Sie berichten von unangemessenem Polizeiverhalten im Umgang mit ihnen und fehlender psychologischer Unterstützung nach der Tat sowie von Bagatellisierung hinsichtlich des rassistischen Mordversuchs an Aftax Ibrahim. Und sie berichten von ihrer Courage, sich dem Täter zu widersetzen, gemeinsam, unbeugsam und entschlossen sich nicht durch diese Tat aus der Gesellschaft zurückziehen zu wollen. All das muss eine entsprechende Würdigung im Urteil finden.

Wir fordern daher: Die Taten müssen ideologisch eingeordnet und das Netzwerk um und hinter dem mutmaßlichen Täter sichtbar gemacht werden.
Versäumnisse der Ermittlungsbehörden müssen aufgeklärt werden.
Die Betroffenen und ihre Perspektive muss gewürdigt und angehört werden.
Keine Bühne dem Täter, weder im Gerichtssaal, noch in den Medien.

Dennoch muss zum Schluss festgehalten werden, kein gerichtliches Urteil wird rechte Gewalttäter*innen von der Begehung ihrer Taten abhalten. Auch können wir uns nicht auf das Aufklärungsversprechen des Staates verlassen. Es stimmt uns zuversichtlich, so viele Menschen heute hier zusehen, aber auch, dass viele Initiativen sich mit dem Anschlag in Halle und seinen Folgen beschäftigen, aufdecken und aufklären. Es braucht diese Entschlossenheit, es braucht dieses Engagement. Einzig eine aufmerksame, sensibilisierte, solidarische Gesellschaft wird diesen Taten ihre ideologische Legitimation entziehen und Rechtsterrorismus verhindern können.
Denn auch wenn das Urteil im Prozess enttäuschend werden sollte, das Wissen über Antisemitismus, über staatliches Versagen und die Sichtbarkeit der Betroffenen ist in der Welt und das lassen wir uns nicht nehmen.