Forderungen an die Stadt Jena – NSU-Komplex konsequent begegnen!

Zurzeit findet ein städtisches Kulturprogramm namens „Kein Schlussstrich! Jena und der NSU-Komplex. Eine stadtgesellschaftliche Auseinandersetzung“ statt. Ganze zehn Jahre nach dem Bekanntwerden des NSU, dessen Kernmitglieder bekanntlich aus Jena stammten, sind somit erstmals Anzeichen einer breiteren Auseinandersetzung mit dem Thema in den städtischen Institutionen erkennbar. Abdul Kerim Şimşek, der Sohn von Enver Şimşek, dem ersten Mordopfer des NSU, spricht in diesem Zusammenhang zurecht von einem Weg, auf den sich die Stadt Jena begeben habe; die Stadt selbst will die Nachhaltigkeit der Veranstaltungen betont wissen. Wohin der eingeschlagene Weg jedoch führt und welche nachhaltigen Wirkungen die oben zitierte „stadtgesellschaftliche Auseinandersetzung“ haben wird, wird sich erst im Nachhinein beurteilen lassen. Damit die notwendige Beschäftigung mit dem NSU-Komplex nicht allein auf kultureller Ebene verbleibt, richten wir hiermit einige konkrete Forderungen an die Stadt. In diesem Sinne: Die Auseinandersetzung der Stadt Jena mit sich selbst wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit greifbare Schritte auf das Kulturprogramm folgen. Diese müssten wenigstens die folgenden Punkte umfassen: 1. Aufarbeitung des NSU-Komplex, 2. Gedenken und Erinnern sowie 3. Praktische Konsequenzen. Die folgenden Forderungen resultieren aus einer Vielzahl von Gesprächen, die wir mit verschiedenen antirassistischen, antifaschistischen und/oder migrantischen Gruppen und Einzelpersonen vor Ort geführt haben; wir haben sie gemäß unserem aktuellen Wissens- und Informationsstand erstellt und weisen ausdrücklich auf die Unabgeschlossenheit der Liste hin. Auch möchten wir alle engagierten Initiativen und Personen dazu aufrufen die Forderungen zu ergänzen!

1. AUFARBEITUNG

Aufarbeitung von und Umgang mit akzeptierender Jugendarbeit

Es bedarf einer konfrontativen sowie transparenten Auseinandersetzung mit der Praxis der lokalen akzeptierenden Jugendarbeit, welche die Radikalisierung Jugendlicher und schlussendlich die Entstehung des NSU begünstigte. Die Rolle des Jenaer Jugendamtes und der damaligen Mitarbeitenden muss klar benannt und institutionell aufgearbeitet werden! Alle Dokumente aus der Zeit müssen öffentlich zugänglich sein und eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung derselben gefördert werden.

Anerkennung antifaschistischer/migrantischer Kämpfe der Vergangenheit und Gegenwart

Der jahrzehntelange Widerstand und Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus in Jena durch antirassistische und antifaschistische Gruppen sowie selbstorganisierte Migrant:inneninitiativen muss anerkannt und in der öffentlichen Wahrnehmung rehabilitiert werden. Dazu gehört auch die Anerkennung der Gewalterfahrungen der Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt. Dies erfordert ein Ablassen von der relativierenden Extremismustheorie, Unterstützung migrantischer Akteur:innen sowie wertschätzende Anerkennung der Expertisen und Errungenschaften dieser sowie antifaschistischer Arbeit.

2. GEDENKEN UND ERINNERN

Gedenkkonzept sowie Dokumentations- und Bildungszentrum
Wir fordern ein ganzheitliches und umfassendes städtisches Gedenkkonzept, welches auf Verharmlosung und Verschweigen verzichtet. Die Sensibilität gegenüber den Opfern, ihren Hinterbliebenen und Betroffenen rechter Gewalt muss Handlungsmaxime für das Konzept sein. Ein konkreter Schritt wäre die Integration von Gedenktagen. Mittelfristig sollte ein lokales Dokumentations- und Bildungszentrum zum NSU-Komplex und den Kontinuitäten rechten Terrors geschaffen werden. Darin einfließen sollten auch die lokalen Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt.

Benennungen im öffentlichen Raum

Die Benennung des Enver-Şimşek-Platzes darf nicht das Ende der Sichtbarmachung und des Gedenkens im Stadtbild Jenas darstellen. Als Teil einer Gedenkkultur im öffentlichen Raum fordern wir weitere Benennungen von Plätzen und Straßen im Gedenken an die Opfer des NSU unter Einbeziehung der Angehörigen.

Eingang in Bildungsarbeit

Der NSU-Komplex muss im Bestreben politischer Bildung und einer wachsamen rassismuskritischen/antisemitismuskritischen Haltung Teil der Allgemeinbildung an Jenaer Schulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung werden. Dabei ist die Betroffenenperspektive in den Mittelpunkt zu rücken; die gesellschaftlichen Entwicklungen der 1990er Jahre und die grassierende rechte Gewalt sind als Teil der Jenaer Stadtgeschichte einzuordnen.

3. KONSEQUENZEN ZIEHEN – KEINEN SCHLUSSSTRICH: NOTWENDIGKEIT ANTIRASSISTISCHER PRAXEN

Bekämpfung von Rassismus in städtischen Behörden
Rassismus ist kein Phänomen, das auf Neonazis beschränkt ist. Institutioneller Rassismus und Alltagsrassismus sind weiterhin weit verbreitet. Um diese Rassismen in Behörden zu bekämpfen, bedarf es breit angelegter, verpflichtender Lehr- und Weiterbildungen für die städtische Verwaltung zu (Alltags-)Rassismus und Rechtsextremismus.

In Jugendzentren Orte für marginalisierte und migrantisierte Jugendliche schaffen

Eine Konsequenz aus der verfehlten Jugendarbeit muss sein, Angebote lokaler Jugendarbeit bewusst für marginalisierte und migrantisierte Jugendliche zu konzipieren, wobei Unterstützungskonzepte zur Empowerment-Förderung ein wichtiger Bestandteil sein müssen. Konzepte zum Umgang mit rechtsgefährdeten Jugendlichen und Phänomenen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit müssen eminenter Bestandteil der Konzeptionen sein. Die Stadt muss im Rahmen der Jugendförderplanung diese Entwicklung unterstützen und fördern.

Selbstverwaltete, (post)migrantische Orte ermöglichen

Wie es einst das Afro-Center war, braucht es wieder selbstverwaltete Orte für (post)migrantische Communities. Diese dienen als safe space und können außerdem Prozesse politischer Selbstorganisierung stärken. Die Stadt muss hierfür Bedarfe in den Selbstvertretungsorganisationen erfragen und angemessene Immobilien bereitstellen.

Politik gegen rechte Gewalt und Hass

Auch aktuell gibt es rechte Gewalt und Hass in Jena. Wie antifaschistische Recherchen zeigen, leben und arbeiten frühere Wegbegleiter:innen und Unterstützer:innen des NSU heute teils unbehelligt in der Stadt. Hier braucht es eine klare und wahrnehmbare Haltung der gesamten Stadt(-gesellschaft). Unternehmen von oder mit damaligen Unterstützer:innen des NSU dürfen keine öffentlichen Aufträge erhalten und nicht in öffentlichen Einrichtungen eingesetzt werden. Stadtrat und Verwaltung müssen alles in ihrer Macht Stehende dazu beitragen, dass sich damalige und heutige Betroffene rechter Gewalt gehört und unterstützt fühlen.

Institutionalisierte Arbeit gegen Rechts gewährleisten

Darüber hinaus fordern wir die Stärkung von Initiativen gegen Rechts. Dazu gehört auch die Ausweitung, Weiterentwicklung und finanzielle Absicherung des Jenaer Stadtprogramms gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Intoleranz. Die rechte Strategie der Ausgrenzung und Bedrohung darf nicht zur Etablierung von Angsträumen führen. Der AfD muss konsequent entgegengetreten werden.

Die V-Personen-Praxis und das Aktenschreddern des Verfassungsschutzes öffentlich verurteilen

Der Verfassungsschutz ist tief in den NSU-Komplex verstrickt und blockiert bis heute seine Aufklärung. Wir fordern daher eine klar vernehmbare Verurteilung der V-Personen-Praxis und des Aktenschredderns des Verfassungsschutzes seitens der Stadt als Konsequenz aus dem NSU-Komplex.

Sicherer Hafen

Zu einer dekolonialen, antirassistischen Praxis gehört auch, endlich der Agenda „Sicherer Hafen“ gerecht zu werden und möglichst viele Geflüchtete aus Lagern etwa in Griechenland sicher nach Jena zu holen. Für alle Geflüchteten in Jena müssen menschenwürdige Lebensbedingungen sichergestellt werden.

Forderungen der Enquete-Kommission gegen Rassismus und Diskriminierungen

Viele der Handlungsempfehlungen der „Enquete-Kommission gegen Rassismus und Diskriminierungen“ sind bis heute nicht umgesetzt. Auch wenn die meisten von ihnen auf Landesebene umgesetzt werden müssten, können manche auch auf kommunaler Ebene realisiert werden. Wir fordern die Stadt Jena auf dies zu tun! Dies betrifft u.a. die Nutzung von Diversity-orientierten Ansätzen bei Personalentscheidungen städtischer Institutionen sowie die Erarbeitung einer Antirassismus- und Antidiskriminierungsrichtlinie. Weiterhin fordern wir die Stadt Jena dazu auf sich öffentlich dafür einzusetzen, dass die übrigen Empfehlungen vom Land Thüringen umgesetzt werden.

Stadtratsbeschluss mit klarer Agenda

Um dem Willen der Aufarbeitung und des angemessenen Gedenkens Ausdruck zu verleihen, fordern wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Stadtratsbeschluss, der den klaren Willen zur weiteren Aufarbeitung des Themas bekundet und die nächsten Schritte zur konkreten Umsetzung der genannten Punkte festlegt.

Jena, 20.10.2021
Gruppe NSU-Komplex Auflösen Jena