“EMPÖRUNG REICHT NICHT! Wir fordern konsequentes Handeln gegen Rassismus, HIER und JETZT!” – Demo in Jena am 16.07.2021

Zehn Jahre wollten die Verteter*innen der Stadt Jena nichts von Aufarbeitung des NSU-Komplexes wissen. Zehn Jahre, das entspricht auch der Zeit, welche etwa die Angehörigen von Enver Şimşek nicht wussten, wer ihn ermordet hat. Zehn Jahre, in denen sie durch die Ermittlungsbehörden verdächtigt, überwacht und psychischem Terror ausgesetzt wurden. Und nicht zuletzt zehn weitere Jahre, in denen sich Rassisten und Neonazis weiterhin organisieren und vernetzen konnten.
Zehn Jahre des Schweigens, dabei wäre es so wichtig, den NSU-Komplex auch lokal aufzuarbeiten, um ableiten zu können, welche strukturellen Änderungen es braucht, um Ähnliches künftig zu verhindern! Auch deshalb forderten Angehörige der Ermordeten nach dem Münchner Prozess, „keinen Schlussstrich“ zu ziehen.

Selbst im Jahr 2019 musste die Stadtspitze noch, obgleich die Bewohner*innen von Winzerla und der Ortsteilrat Winzerla sich engagiert zeigten, zu einem ersten Schritt der Erinnerung hingetragen werden: Der Benennung des Enver-Şimşek-Platzes.
Danach gab es über JenaKultur den Vorstoß, für dieses Jahr ein Programm mit vielen Bausteinen und Veranstaltungen zu planen, dass sich um den NSU-Komplex drehen soll. Wir begleiten diese Planungen kritisch. Es zeigen sich weiterhin Ambivalenzen: Einerseits wurden viele Kritikpunkte aufgenommen und mittlerweile sind auch die Perspektiven von Menschen, die von Rassismus betroffen sind, eingebunden. Doch Leerstellen bestehen weiterhin: Kritik an Polizeiarbeit und dem VS, Thematisierung und Bekämpfung von Antisemitismus, die Einbeziehung und Würdigung einer antifaschistischen Perspektive, eine Auseinandersetzung mit problematischer Presseberichterstattung, kritische Auseinandersetzung mit Rassismus in der Verwaltung. Wir sehen bisher nicht, dass ein Konzept besteht, was über dieses Programm hinaus in Jena an Aufarbeitung geleistet werden wird. „Kein Schlussstrich“ unter den NSU-Komplex zu ziehen ist die zentrale Forderung vieler Angehöriger der Opfer des NSU.

Wir fordern deshalb weiterhin von der Stadt, Konzepte zu entwickeln und vorzulegen, wie der NSU-Komplex lokal weiter aufgearbeitet werden kann, welche Schritte dazu über das Jahr 2021 hinaus unternommen werden und welche Konsequenzen von den Verantwortlichen der Stadt Jena aus dem NSU-Komplex gezogen wurden und werden.
Einige Ansatzpunkte für das weitere Gedenken, Erinnern und Anmahnen, die wir für zentral halten, wollen wir hier kurz aufzeigen:
Zur kolonialen und neokolonialen Praxis gehört auch, dass rassistische Taten verharmlost oder verschwiegen werden. Um dies nicht fortzuführen, muss der NSU-Komplex und vor allem die Erinnerung an die Opfer des NSU in die Jenaer Stadtgeschichte eingeschrieben werden. Dies gehört zur Verantwortung einer Stadt, aus der die Täter_innen kamen. Der NSU-Komplex gehört auf den Lehrplan in Schulen und muss Bestandteil weiterer Bildungsarbeit sein. Hierfür könnte die Stadt Strukturen und Lernorte schaffen. Um aus Geschichte lernen zu können, braucht es ein Bewusstsein für rassismuskritische und antifaschistische Geschichte, und in Jena gehört dazu eben nicht zuletzt der NSU-Komplex. Es braucht ein kontinuierliches Gedenken und Erinnern an die Opfer des NSU. Hierfür kann die Benennung des Enver-Şimşek-Platzes nur ein Anfang sein, dieser steht eben nicht stellvertretend für alle Opfer, wie OB Nitzsche bei der Eröffnung sagte, und damit doch einen Schlussstrich ziehen möchte. Stattdessen fordern wir, weitere Benennungen in den nächsten Monaten und Jahren vorzunehmen. Sichtbarkeit ist ein Baustein für Bewusstsein und Auseinandersetzung! Ein offensichtlich von offizieller Seite kaum aufgearbeiteter Bestandteil des NSU-Komplexes, der erklären hilft, warum das alles so geschehen konnte, ist das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit. Dieses führte in den 90er Jahren dazu, dass rechte Jugendliche sich in städtischen Jugendclubs vernetzen und organisieren konnten. Teilweise entstanden Angsträume für nicht-rechte Jugendliche und Andersdenkende. Das darf sich so nicht wiederholen, und deshalb fordern wir eine offene Aufarbeitung der akzeptierenden Jugendarbeit, wie sie in Jena umgesetzt wurde. Darauf aufbauend bedarf es der Entwicklung von Konzepten für den Umgang mit rechtsoffenen und neonazistischen Jugendlichen in den städtischen Jugendclubs. Und vor allem braucht es Konzepte der Unterstützung! Empowerment von migrantisierten und marginalisierten Jugendlichen in Jena sollte sich in jeglichen Bereichen gegen die Fortführung neokolonialer und rassistischer Gewalt stellen.
Dazu gehört auch, endlich der Agenda „Sicherer Hafen“ gerecht zu werden und alles dafür zu tun, dass Geflüchtete aus den Lagern in Griechenland nach Jena kommen können.

Die letzten 70 Jahre haben immer wieder gezeigt, dass wir uns allein auf staatliche Institutionen weder bei der Aufarbeitung von rechtem Terror und rassistischer Gewalt, noch in Bezug auf das Beenden struktureller rassistischer Gewalt nicht verlassen können. Es zeigt sich immer wieder ein Muster, dass sich in der mangelnden Aufarbeitung des NSU-Komplexes leider nur wiederholt. Wie im Demo-Aufruf geschrieben: Wir brauchen starke Allianzen, um dem Rassismus und Neonazismus etwas entgegenzusetzen, um strukturelle Änderungen zu erzwingen!

Alerta, Alerta Antirassista!