Kurzer Rückblick auf die Einweihung des Enver-Şimşek-Platzes in Jena-Winzerla und Ausblick auf das Gedenkjahr 2021

Am Samstag, dem 19.09.2020 war es endlich so weit. 20 Jahre nach dem gewaltsamen Tod von Enver Şimşek am 11.09.2000 in Nürnberg und den Jahren des Leids für die Familie. Zehn Jahre nach dem Bekanntwerden des NSU am 04.11.2010. Vier Jahre nach dem Beginn des Quartiersentwicklungsprozesses in Winzerla, in dessen Rahmen die Idee für die Benennung des bisher namenlosen Platzes oberhalb der Haltestelle Damaschkeweg entstand. Ein Jahr nach dem antisemitischen Anschlag in Halle, ein halbes Jahr nach dem rassistischen Attentat in Hanau. Die Weihe ist ein Zeichen, welches in vielerlei Hinsicht zu spät kommt und doch braucht es diesen Ort der Erinnerung an Enver Şimşek gerade an dieser Stelle und in dem Stadtteil, der als ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Sozialisierung und Radikalisierung der Mitglieder und UnterstützerInnen des NSU angesehen werden muss. Die Weihe ist überwiegend geprägt von politischen Vertretern, es spricht der Oberbürgermeister Thomas Nitzsche, ein Grußwort des Bundespräsidenten wird verlesen, gefolgt von Minsterpräsident Bodo Ramelow, dem Generalkonsul der Türkei Serdar Deniz und dem Winzerlaer Ortsteilbürger Friedrich Gebhard. Am Schluss dann die Rede im Namen der Zivilgesellschaft von Pastorin Friederike Costa. Die Veranstaltung beschließt dann die Rede von Abdulkerim Şimşek, dem Sohn des Mordopfers. Er macht deutlich: „Als der NSU im Jahr 2011 aufflog, hat man uns viele Versprechungen gemacht“.

In den zurückliegenden zehn Jahren ist in Sachen Auseinandersetzung mit dem NSU in Jena von offizieller Seite wenig bis nichts passiert. Versuchte die Stadt gleich nach Auffliegen des NSU das Image der Stadt, die militante Nazis hervorbrachte, mit viel Licht, Musik und Prominenz wieder herzustellen sowie Weltoffenheit und Toleranz nach vorne zustellen, wurde es in den darauffolgenden Jahren sehr still um das Thema NSU. Nun ist seitens der Stadt das folgende Jahr 2021 als großes Gedenkjahr an die Opfer und Taten des NSU auserkoren worden. Die Stadt Jena und ihr Eigenbetrieb JenaKultur organisieren ein großes Kulturfestival und die Platzweihe, angestoßen und maßgeblich eingefordert durch die Zivilgesellschaft, wird dabei kurzerhand zur Auftaktveranstaltung deklariert.

Wir sind irritiert, wenn während der Platzweihe allzu viel (Selbst-)Lob für die Errungenschaften Jenas und die Vorhaben im nächsten Jahr verteilt wird, hingegen aber die Verfehlungen der Vergangenheit als „nicht erklärbare Fahrlässigkeiten“ durch den Oberbürgermeister bezeichnet werden . Eine solche Aussage verunmöglicht eine reflektierte und differenzierte Sicht auf den NSU-Komplex und die Verantwortung der Stadt Jena. Die Platzbenennung in Winzerla ist keine Errungenschaft der Stadt –  vielmehr ist sie das erkämpfte Resultat antirassistisch und antifaschistisch aktiver Initiativen und Einzelpersonen gegen die jahrelange Gleichgültigkeit und das Desinteresse einem Großteil der Jenaer Stadtgesellschaft, auch bis hinein in die Politik. Dass an diesem Samstag ca. 150 Personen anwesend sind, resultiert ebenfalls nicht aus der Einladungspolitik der Stadt, sondern ist abermals auf die Mobilisierung politischer Gruppen zurückzuführen.

Wenn nun versprochen wird im Rahmen eines Kulturprogramms aus den Versäumnissen der Vergangenheit zu lernen und Zeichen für eine weltoffene Zukunft zu setzen, wird dies nicht mit einer einzigen Aktionswoche einzulösen sein. Dies kann glaubhaft nur erfolgen durch die Anerkennung der Notwendigkeit einer langfristigen, engagierten und differenzierten Auseinandersetzung damit. Was hieße es in einem solchen Prozess die Perspektive der Betroffenen einzunehmen? – Es würde zunächst einmal bedeuten sich nicht als weiße Person anzumaßen, der vermeintlich gleichen Gewalterfahrung durch extrem Rechte ausgesetzt gewesen zu sein, so wie Ministerpräsident Ramelow es während der Platzweihe formulierte. Denn dies lässt den „zweiten Anschlag“, wie viele Betroffene des NSU-Terrors ihn bezeichnen, völlig außer Acht, der in der medialen und polizeilichen Täter-Opfer-Umkehr sowie dem Nicht-gehört-werden durch den Staat, seine Institutionen und die weiße Mehrheitsgesellschaft besteht. Am Anfang stünde ein Zuhören als politischer Akt – darauf aufbauend gilt es mit breiten und neuen Bündnissen den Kampf gegen Faschismus, Antisemitismus und Rassismus entschieden zu führen.

Wir dokumentieren an dieser Stelle alle Reden der Veranstaltung.