Der Verfassungsschutz – kein Partner für die demokratische Meinungsbildung an Thüringer Schulen!
Am 19.9.2019 findet eine Summer School zum Thema Bildung und Demokratie unter der Frage: „Wie viel Verfassung braucht der Lehrberuf“ statt. Als Inputgeber ist dabei auch Stephan Kramer eingeladen, der Leiter des Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz eingeladen. Dazu haben wir mit den kritischen Lehrer*innen ein Statement verfasst.
Die Auseinandersetzung um die Frage „Wie viel Verfassung braucht der Lehrberuf?“ ist für uns relevant. Insbesondere, da der Impulsvortrag auf der Summer School zum Thema „Demokratiebildung“ von dem amtierenden Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes (VS), Stephan Kramer, gehalten wird. Warum ist gerade dieser eingeladen worden? Hätte es nicht andere, qualifiziertere Akteur*innen gegeben, die Perspektiven zum Thema ermöglichen?
Der Verfassungsschutz ist nämlich keinesfalls der geeignete Partner für Demokratiebil-dung in Schulen. Diese stellt eine wichtige Grundlage für eine offene Gesellschaft dar. Staatliche Institutionen wie der VS stehen dazu in einem besonderen Spannungsverhältnis. Sie geben sich zwar gern den Anstrich der politischen Neutralität, verfolgen jedoch ein spezifisches politisches Interesse: Förderungen und Besetzungen einer Behörde sind das Resultat politischer Auseinandersetzungen. Dieses politische Interesse ist auch als solches zu markieren; nicht nur wenn der VS als Bildungsakteur auftreten will.
Darüber hinaus wird der VS durch seine Arbeit in keiner Weise dazu qualifiziert , als „Demokratie-Profi“ aufzutreten. Es gibt keine wirkliche Transparenz, nach welchen Krite-rien er Personen, Organisationen oder Ähnliches als verfassungsfeindlich einstuft. Seine Handlungsweisen sind nicht nachvollziehbare Verdächtigungen und Beobachtungen. Zudem beschäftigt und unterstützt er Neonazis und im Zuge dessen rechtsradikale Strukturen, wie am Beispiel von Tino Brandt deutlich wird. Wenn der Verfassungsschutz in der Vergangenheit als Bildungsakteur aufgetreten ist, fiel er dadurch auf, dass er dort gleichzeitig Informationen sammelte – logischerweise, da dies (und nicht Bildungsarbeit) die Hauptaufgabe des VS ist. Das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Schüler*innen und Sozialarbeiter*innen bzw. Lehrer*innen wird durch diese eigentliche Hauptaufgabe gestört und sie läuft jedem demokratischen Bildungsauftrag entgegen.
Gerade bei Demokratiebildung als Teil politischer Bildung ist zudem der Beutelsbacher Konsens nicht außer Acht zu lassen. Neben der Nachvollziehbarkeit und Transparenz von Quellen, beinhaltet dieser ein Verbot, Schüler*innen zu indoktrinieren und zu über-wältigen. Der VS verstößt in seiner Rolle als staatliche Autorität, die so nicht in Frage gestellt werden darf, gegen beides. Außerdem sollen Themen, die gesellschaftlich kontrovers diskutiert werden, auch so dargestellt werden. Dies ist jedoch nicht im Interesse des VS: Es geht lediglich um einseitige Aufklärungen, sodass ausschließlich Linksextremismus, Rechtsextremismus und Islamismus als demokratiefeindlich dargestellt werden. Im Sinne einer umfassenden Bildung sollte es jedoch nicht darum gehen, komplexe Sachverhalte zu reduzieren und anhand von schematischen Kategorien abzuhandeln. Stattdessen sollen Bildungsakteur*innen mit ihren Impulsen Schüler*innen dazu befähigen, die Realität differenziert betrachten, hinterfragen und beurteilen zu können.
Die besagten Merkmale der Arbeit des Verfassungsschutzes – Intransparenz, die Unter-stützung rechter Netzwerke und der fehlende Wille zur Aufklärung – sind insbesondere im Zusammenhang mit der Aufdeckung des NSU-Komplexes deutlich geworden und zeigen, wie ungeeignet der VS als Partner für eine demokratische Bildungsarbeit in Schulen ist.
Am 11.11.2011 gab der seinerzeit amtierende Referatsleiter für Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus im Bundesamt für Verfassungsschutz die Anweisung, zahlreiche Akten vernichten zu lassen. Diese Akten enthielten Informationen über V-Personen, die in den 1990er/2000er Jahren im direkten Umfeld des Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) in Thüringen agierten. Die zynisch als „Aktion Konfetti“ bezeichnete Anordnung gilt als Reaktion auf die in der Woche zuvor stattgefundene Selbstenttarnung des NSU. Zuvor hatte der NSU über mehrere Jahre hinweg rassistisch motivierte Mord- und Sprengstoffanschläge verübt, mindestens zehn Menschen getötet und darüber hinaus zahlreiche Bank- und Raubüberfälle begangen. Die Verstrickungen des thüringischen Verfassungsschutzes (TLfV) und anderer Landes- und Bundesämter in den NSU-Komplex sind bis heute unaufgeklärt; die Aufklärung wird seitens der Ämter blockiert und im wahrsten Sinn des Wortes „geschreddert“ und unter Verschluss gehalten. Dorothea Marx (SPD), die Vorsitzendes der Thüringer Untersuchungssauschuss zum NSU, spricht in diesem Zusammenhang von „betreuten Morden“ und der Abschlussbericht des ersten Ausschusses erkennt „hinreichend Gründe, von einer mittelbaren Unterstützung und Begünstigung derartiger Strukturen [gemeint sind Nazigruppen, insb. der ‚Thüringer Heimatsschutz‘, der als Vorgängergruppe des NSU gilt] durch das TLfV zu sprechen“.
Der VS arbeitet strukturell gegen eine informierte und aufgeklärte – demokratische – Öffentlichkeit
Im Zuge des Bekanntwerdens des NSU versprach Bundeskanzlerin Merkel am 23.02.2012 „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hinter-männer aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck“. Dieses Versprechen wurde gebrochen. Denn obwohl engagierte Angehörige der Mordopfer und Betroffene der Anschläge, ihre Anwälte sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche und antifaschistische Initiativen und parlamentarische Untersuchungsausschüsse beharrlich die Aufarbeitung vorantrieben, blockierten die Verfassungsschutzämter, wo sie nur konnten. Ihre Devise lautet(e) „Quellenschutz statt Opferschutz“ und sie protegieren ihre Nazi-V-Personen weiterhin. Damit hält der Verfassungsschutz, wie der Inlandsgeheimdienst hierzulande gerne bezeichnet wird, an einem System fest, das den NSU ganz offenbar nicht nur nicht verhindern konnte, sondern maßgeblich strukturell mit ermöglichte.
Die V-Personen-Praxis des Verfassungsschutzes am Beispiel des „Thüringer Heimatschutzes“
Die Informationsbeschaffung des VS läuft z.T. über sogenannte V-Männer. Diese sind Angehörige der zu beobachtenden Szene, in welcher sie bestenfalls zentrale Rollen einnehmen. Informationen werden gesammelt und an einen V-Mannführer, einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, weitergegeben. Was dabei als Gegenleistung für die V-Männer rumkommt, lässt sich am Beispiel Tino Brandts, alias V-Mann „Otto“, zeigen. Als NPD-Spitzenfunktionär und Schlüsselfigur des „Thüringer Heimatschutz“, wurde er vom TLfV von 1994-2001 als „Top-Quelle“ geführt. Diese Quelle ließ sich das TLfV etwas kosten: Umgerechnet kassierte Brandt über 100.000€ und oben drauf die Finanzierung von Fahrtkosten, Auslagen und technischen Geräten wie Telefon, Fax und Computer. Er selbst gab später an, den Großteil dessen für den Aufbau der Neonazi-Szene genutzt zu haben, was ihm andernfalls kaum in diesem Ausmaß möglich gewesen wäre. Zudem kam es trotz einer Vielzahl an Ermittlungsverfahren gegen Brand wegen „verfassungsfeindlich geltenden Aktionen“ nie zu einer rechtskräftigen Verurteilung. Dies mag an der üblichen „Quellenschutz“-Praxis des VS liegen: In einem Ende der 1990er Jahre verfassten Thesenpapier des Bundeskriminalamtes (BKA) wird festgestellt, dass der Verfassungsschutz Ermittlungs- und Beweisansätze vernichte und V-Personen gar vor Hausdurchsuchungen warne. Um V-Personen nicht durch Haftstrafen als Quellen zu verlieren, schützt der VS letztlich Nazis vor Strafverfolgung. Und dennoch trugen die mittlerweile ca. 40 bekannten V-Personen im Umfeld des Kerntrios offenbar nicht zur Enttarnung und Verhaftung des NSU bei. Kurz, das Urteil über den Verfassungsschutz muss so oder so desaströs ausfallen: entweder ist er strukturell unfähig Rechtsterrorismus zu verhindern oder noch Schlimmeres.
Die V-Personen-Praxis, der Umgang mit Akten (so auch im jüngsten rechtsterroristischen Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke) sowie die Bagatellisierung von Naziaktivitäten in VS-Berichten und die Delegitimierung von Engagement gegen Rechts unter Bezugnahme auf die pseudowissenschaftliche Extremismustheorie, lassen den Verfassungsschutz als Partner für eine demokratische Bildung ausscheiden. Der VS ist keine neutrale Behörde, und er ist erst recht keine Bildungseinrichtung mit pädagogischem Auftrag – er ist eine politische Behörde, die demokratisch nicht zu kontrollieren ist und die mit dem öffentlichen Interesse an Aufklärung des NSU-Komplex im Konflikt steht. Die Verfassung jedenfalls wird durch den VS genauso wenig geschützt wie er die Opfer des NSU schützen konnte. Deshalb ist es für die Frage des VS als Partner für eine demokratische Bildung auch zweitrangig, dass es in Thüringen unter der rot-rot-grünen Landesregierung zu einer Einschränkung der V-Mann-Praxis kam – im Kern bleibt der Inlandsgeheimdienst unreformierbar.
Wir fragen weiterhin: Was wusste der Verfassungsschutz über den NSU?
Und wir fordern:
• VERFASSUNGSSCHUTZ RAUS AUS DEN SCHULEN!
• KEINE ZUSAMMENARBEIT VON ZIVILGESELLSCHAFT UND WISSENSCHAFT MIT DEM VERFASSUNGSSCHUTZ!
• KEIN SCHLUSSSTRICH UNTER DEN NSU-KOMPLEX!
• VERFASSUNGSSCHUTZ ABSCHAFFEN!
Kritische Lehrer*innen Jena & NSU-Komplex auflösen/Jena