Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen, liebe Initiative 6. April, und vor allem: liebe Freundinnen und Freunde, liebe Angehörige von Halit Yozgat,
wir sprechen für die Ortsgruppe Jena des bundesweiten Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“. Wir sind gemeinsam mit Aktiven aus Chemnitz und Zwickau angereist, um an eurem Gedenken teilzunehmen und um euch mit euren Forderungen zu unterstützen.
Auf verschiedene Art und Weise versuchen wir in unseren jeweiligen Städten die Forderung „Kein Schlussstrich unter den NSU-Komplex“ zu vertreten. Wir glauben, dass es wichtig ist, Austausch zwischen den verschiedenen lokalen Initiativen herzustellen und Solidarität untereinander zu üben. Nicht nur hier in Kassel zeigt sich, dass Erinnern immer noch Kämpfen heißt. Sowohl die Aufklärung der abscheulichen Verbrechen des NSU als auch das würdige Gedenken an die Opfer muss von unten und gegen Widerstände erkämpft werden.
Was aber heißt „Kein Schlussstrich“ für die Aufarbeitung des NSU-Komplex und das Gedenken an die Opfer in den Städten, in denen wir heute wohnen und in denen seinerzeit auch der NSU wohnte?
Wir als Jenaer Gruppe müssen und wollen uns fragen: Was heißt Aufarbeitung und Aufklärung des NSU-Komplex für Jena? Also für jene Stadt, aus der wir heute angereist sind und in der wir wohnen. Die aber gleichzeitig die Stadt ist, in der der NSU entstand und wo seine Kernmitglieder und Unterstützter aufwuchsen. Wie stellt sich also die aktuelle Situation in Jena dar? Wird der NSU als Teil der Stadtgeschichte sichtbar gemacht und reflektiert? Nach so vielen bereits verstrichenen Jahren sind wir uns sicher: das wird nicht von selbst passieren! Wir und andere Initiativen haben viele Veranstaltungen und Aktionen zum Thema durchgeführt, die oft auf großes Interesse gestoßen sind.
Die Stadt jedoch verhält sich passiv oder blockiert sogar: Erst vor kurzem hat sich der Ortsteilrat in Jena-Winzerla nach einer Bürgerbefragung dafür ausgesprochen, einen neu gestalteten Platz „Enver Şimşek-Platz“ zu benennen. Nach unserem Kenntnisstand begrüßt auch die Familie Şimşek diesen Schritt. Winzerla ist der Ortsteil von Jena, wo die Mitglieder und Unterstützer des späteren NSU sozialisiert wurden, wo sie im Jugendclub akzeptiert wurden und Überfälle ausübten. Und bis heute erinnert gerade in diesem Stadtteil nichts an die Opfer des NSU und anderer rassistischer und faschistischer Übergriffe. Doch die Stadtverwaltung und der Oberbürgermeister blockieren den demokratisch legitimierten Vorschlag der Platzbenennung bislang. Mit fadenscheinigen Verlautbarungen knüpft sie an vorherige Lippenbekenntnisse zum Thema an. Allen Ernstes schlägt die Stadt vor, dem Platz den beliebig anmutenden Namen „Platz der Demokratie“ zu geben – und tritt damit den demokratischen Entscheidungsprozess mit Füßen, der an das erste Mordopfer der Jenaer Terrorgruppe NSU erinnern möchte.
Das Beispiel macht deutlich: Wie die Angehörigen der Mordopfer des NSU und die Betroffenen der Bombenanschläge und ihre Unterstützer_innen in ihren Städten um Aufklärung, gegen das Vergessen und für ein würdiges Gedenken kämpfen, so müssen auch wir in Jena für die Erinnerung kämpfen. Denn sehr wenig deutet derzeit in Jena auf die Entstehung des NSU hin. Es mangelt an einer städtischen Aufarbeitung der Entstehungsbedingungen des späteren NSU. Diese müsste nicht nur den Radikalisierungsprozess nachzeichnen, sondern auch neonazistischen Aktivitäten und ihre Kontinuitäten bis in die Gegenwart sichtbar machen. Die Perspektive der von rechter Gewalt betroffenen Menschen muss dabei zentral sein.
Derzeit deutet wenig in Jena auf eine lokale Gedenkpolitik hin. Ideen dazu versanden, eine Initiative der Stadt fehlt. Aktionen zu einem würdigen Gedenken kommen derzeit vor allem aus der Zivilgesellschaft. Dank der Jungen Gemeinde Stadtmitte gibt es eine Skulptur zum Gedenken an die 10 Mordopfer des NSU, an der an den Jahrestagen ein Gedenken stattfindet, das die Jusos organisieren.
In Jena werden wir uns in den kommenden Monaten – wie die mit uns angereisten Gruppen aus Chemnitz und Zwickau – im Rahmen einer Geschichtswerkstatt mit der Entstehung des NSU-Komplexes beschäftigen. Wir wollen wissen, wie Betroffene von rechter Gewalt die Situation in den 1990er Jahren erlebt haben. Und wir wollen wissen, wie sie bis heute in die Gegenwart wirkt.
Dieses Anliegen verbindet uns mit euch in Kassel und in vielen anderen Städten. Wir sind froh, heute hier zu sein und schließen uns euren Forderungen nach Aufklärung und Gedanken an:
Es muss endlich aufgeklärt werden: Warum wurde ausgerechnet Halit ermordet? Wer hat vor Ort geholfen?
Was wusste und tat der Verfassungsschützer Temme, der zur Tatzeit vor Ort war? Es dürfen keine Akten mehr gesperrt werden! Verfassungsschutz auflösen!
Für ein öffentliches Gedenken! Die Holländische Straße soll in Halitstraße umbenannt werden!
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.
Der Redebeitrag konnte aus Zeitgründen nicht vor Ort gehalten werden, doch er soll hier veröffentlich werden.