Zum Gedenken an Enver Şimşek – Kein Vergeben, Kein Vergessen – 2020

Jena, 09.09.2020

Es ist der 09. September 2000, heute vor 20 Jahren. Enver Şimşek lädt Blumen aus seinem Transporter und baut seinen Verkaufsstand an der Straße auf. Er ist an diesem Tag nur zufällig vor Ort. Eigentlich würde einer seiner Angestellten hier verkaufen, aber der ist im Urlaub und Enver Şimşek springt selbst ein.

Gegen Mittag tauchen die Neonaziterroristen des NSU auf, Enver Şimşek befindet sich grade im inneren seines Transporters. Sie feuern acht Schüsse auf Enver Şimşek. Anschließend machen sie ein Foto von ihm, wie er schwer verletzt im Wagen liegt. Zwei Tage später erliegt Enver Şimşek seinen Verletzungen.

Die Medien aber schreiben damals von „Döner-Morden“ und die Ermittler suchten das Mordmotiv in der Familie oder im Drogenmilieu. Ein Ermittler fabuliert 2001 im Fernsehen, es könne sich auch um eine Abrechnung unter Blumenhändlern handeln. Kurz nach dem Mord richten die Ermittlungen der Polizei sich gegen das Enver Şimşek und seine Familie. Es wird mit großem Aufwand untersucht, ob Enver Simsek in kriminelle Machenschaften verstrickt war, ob Angehörige mit der Tat zu tun haben könnten. Immer wieder wird seine Frau Adile Şimşek verhört, die Wohnung der Familie durchsucht. Nicht mal zwei Tage nach dem Mord wurden die Telefone der Hinterbliebenen angehört. Beamte der Polizei haben Nachbarschaft und Freunde gefragt: Wie hat denn die Frau Şimşek auf den Tod ihres Mannes reagiert? Wie lange hat sie geweint? Die Ermittler zeigten der Witwe außerdem Bilder einer blonden Frau und behaupteten, ihr Mann hätte zu dieser „eine außereheliche Beziehung“ geführt und würde mit ihr zwei Kinder haben. Eine frei erfundene Geschichte, mit der die Ermittler eine Reaktion bei Adile Şimşek provozieren wollten. Auch sonst waren die Ermittlungen von Rassismus geprägt. Am Tatort wurde ein Auto mit zwei Schwarzen Menschen gesehen. In der Akte notiert die Polizei darunter „Neger-Auto“.

Es ist aber nicht so, als ob die Beamten nicht auf die Möglichkeit einer rassistischen  Motivation hingewiesen worden wären. Ein Zeuge hattezwei Männer an Enver Şimşek  Lieferwagen gesehen. Der damalige bayrische Innenminister notiert handschriftlich auf einen Zeitungsbericht: „Bitte mir genau berichten: Ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?“. Doch die Ermittler haben sich bereits festgelegt: Krimineller oder familiärer Hintergrund, vielleicht Drogen. Selbst als mit der Ceska 83 weitere Morde an Migranten begangen werden und aus dem Mord an Simsek eine Serie mit letztlich zehn Morden im ganzen Bundesgebiet wird, zieht die Polizei nie ernsthaft ein rassistisches Motiv in Betracht. Seda Basay-Yildiz, die die Familie Şimşek im Prozess vor dem Münchner OLG vertreten hat und selbst im Visier des NSU 2.0 steht hat die mangelnden Ermittlungen zum NSU-Komplex massiv kritisiert. Es spricht nichts dafür, dass das NSU-Trio ohne Hinweise von außen in die Städte gefahren sei, um nach möglichen Tatorten zu suchen. Die Mörder hätten die insgesamt drei Nürnberger Tatorte ohne örtliche Helfer nicht auskundschaften können, betonte sie.

Dazu, wie die Ermittlungen die Familie belastet haben sagt Enver Şimşeks Tochter, Semiya Şimşek, dass man elf Jahre lang „nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“ kann. Immer sei der Vorwurf im Raum gestanden, „ihr habt etwas zu verheimlichen.

Abdulkerim Şimşek, der Sohn des Ermordeten erzählt, „bis zur Aufdeckung des NSU habe ich niemandem erzählt, dass mein Vater umgebracht wurde. Es klingt absurd, aber ich war erleichtert, dass mein Vater von Nazis ermordet wurde und so seine Unschuld bewiesen wurde.“ „Elf Jahre voller Ungewissheit und Verdächtigungen gegen die Familie. Er soll ein Drogendealer gewesen sein. Es hat nicht gereicht, dass ich meinen Vater verlor. Er wurde auch noch verdächtigt. Es sind elf Jahre, die mich und meine Familie geprägt haben.“

Er sagt weiter, „bis heute wissen wir nicht, warum unser Vater umgebracht wurde. Zufall war es nicht. Und auch der Prozess war einegroße Enttäuschung. Bis auf Beate  Zschäpe laufen alle Angeklagten frei herum. Die Nazis applaudierten, als das Urteil gesprochen wurde.“

„Ich war viele Jahre sehr wütend. Auf alles eigentlich: auf die Polizei, auf das System, auf Deutschland. Die Hilflosigkeit machte mir zu schaffen. Ich hatte das Gefühl, dass man die Taten zulässt, weil wir Ausländer sind. So viele Leute mussten sterben. Normalerweise finden sie in Deutschland jeden, der zu schnell auf der Autobahn unterwegs ist. Aber es wurde immer weiter getötet. Das schien kein Ende zu nehmen. Ich war enttäuscht. Und dann immer wieder diese Lügen in den Medien. Ich hatte Wut in mir. Richtige Wut.“ Zum heutigen 20. Jahrestag der Ermordung seines Vaters spricht Abdulkerim Şimşek eine klare Forderung aus:
„Mein Vater ist gestorben. Aber es sollen keine weiteren Menschen sterben. Es muss etwas gemacht werden. Deutschland bewegt sich in die falsche Richtung. Deutschland darf nicht weiterhin auf dem rechten Auge blind sein. Gegen Rechtsterroristen müssen viel härtere Strafen erfolgen.“
Wir erneuern deswegen ein weiteres Mal unsere Forderung nach der Aufklärung des NSU-Komplexes. Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden. Wir rufen auf zur Solidarität mit den Hinterbliebenen und Betroffenen des NSU-Terrors.
Enver Şimşek kam 1985 aus der Türkei nach Deutschland. Er arbeitete zunächst in einer Fabrik. Nach Feierabend brachte er sich selbst das Blumenbinden bei, verkaufte die Sträuße am Wochenende am Straßenrand. Später machte er sich dann mit einem Blumenhandel selbstständig. Daraus entstand ein Blumengroßhandel mit angeschlossenen Läden und Ständen. Mit den Erlösen unterstützte Enver Şimşek auch sein Heimatdorf in der Türkei, wenn ein Brunnen gebaut oder die Schule renoviert werden musste.

Deutschland, so berichtet es Semiya Simsek, war für ihren Vater nie seine Heimat, wohl aber ein Sehnsuchtsort gewesen. Ein Land, wo mansich ein besseres Leben aufbauen konnte. Enver Şimşek, sparte für ein Häuschen an einem Hang Ispartas. Bei jedem Besuch in der Heimat baute er an seinem Traum, schleppte Steine, setzte sie aufeinander. Hier wollte er seinen Lebensabend verbringen. Heute halten sich seine Hinterbliebenen dort auf. Semiya Simsek beschreibt Enver Şimşek als liebevollen Vater, der seine Kinder zur Selbstständigkeit erzog und in tiefer Liebe mit seiner Frau verbunden war.

Enver Şimşek war die erste von mindestens zehn vom NSU ermordeten Personen. Er wurde 39 Jahre alt und hinterließ seine Frau Adile Şimşek und die beiden Kinder Semiya Şimşek und Abdulkerim Şimşek.

Wir bitten euch um einen Moment der Stille für Enver Şimşek.