Kein Vergessen – Kein Vergeben. Zum Gedenken an Michéle Kiesewetter

Jena, 25.04.2019

Es ist der 25. April 2007, heute vor 12 Jahren, ein ausgesprochen warmer Frühlingstag. Michèle Kiesewetter hätte eigentlich Nachtschicht gehabt, hatte ihren Dienst jedoch auf eigenen Wunsch mit einem Kollegen getauscht. Gegen Mittag wird es Zeit für eine Pause, Michèle Kiesewetter parkt ihren Streifenwagen bei der Heilbronner Theresienwiese. Sie und ihr Kollege öffnen die Türen, wohl wegen der Hitze. Es werden die letzten Momente in Michèle Kiesewetters Leben sein. Gegen 14 Uhr nähern sich zwei Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrundes dem Fahrzeug von hinten. Michèle Kiesewetters Kollege hat sie vermutlich grade noch kommen sehen, er dreht seinen Kopf so, dass er schwer verletzt mit dem Leben davon kommt und wochenlang im Koma liegen wird. Einen Teil des Projektils trägt er bis heute in seinem Kopf. Michèle Kiesewetter überlebt den Mordanschlag der Neonazisterroristen nicht.

Lange Zeit fahndeten die Behörden unter Sinti und Roma nach den Tätern, die sich am Tag der Tat als Landfahrer in der Nähe aufgehalten hatten. In Vermerken aus der Ermittlungsakte der Polizei ist die Rede davon, dass Zitat „Neger[n]“ und „Zigeuner[n]“ „typischerweise lügen würden“. An einem verdächtigen Roma wurde ein sogenannter Lügendetektortest durchgeführt. Die Psychologen hielten daran fest, dass der Mann Zitat „ein typischer Vertreter seiner Ethnie“ sei, was bedeute, dass „die Lüge ein wesentlicher Bestandteil seiner Sozialisation“ sei.

Der Mord an Michèle Kiesewetter ist wie kein zweiter im NSU-Komplex von Verschwörungstheorien umgeben. Warum wurde Michèle Kiesewetter ermordet? Sie passt nicht in das rassistische Muster des NSU. Für den Schluss, es hab sich um eine reine Waffenbeschaffung gehandelt, gibt es zu viele Ungereimtheiten. Michèle Kiesewetter hatte vor ihrer Ermordung an zahlreichen Einsätzen teilgenommen, die im Zusammenhang mit Veranstaltungen der extrem rechten Szene standen. Eine Videoaufnahme, die zwei Tage nach dem Mord entstanden ist zeigt ein Graffito mit dem Kürzel NSU beim Tatort. Ihr Patenonkel sah bereits acht Tage nach der Tat bei einer polizeilichenBefragung eine Verbindung zu den Zitat „Türkenmorden“. Eine Polizistin berichtet 2014 davon, dass sie von zwei Männern bedroht worden sei, sich besser nicht zu sehr an bestimmte Dinge im Zusammenhang mit der Mordermittlung zu erinnern. Kollegen von Michèle Kiesewetter waren beim Ku-Klux-Klan aktiv, ebenso wie ein Neonazi V-Mann des Verfassungsschutzes aus dem Umfeld des NSU. Der Vorgesetzte von Michèle Kiesewetter ist Mitbegründer von Uniter. Dieser Verein wiederum, ist Teil des extrem rechten Hannibal-Netzwerks, einem Zusammenschluss von Neonazis und Neurechten aus der Bundeswehr und Sicherheitsbehörden, in dem bewaffnete Umsturz- genauso wie Mordpläne gegen politische Gegner geschmiedet worden sein sollen.

Was von dem eben gesagten jedoch substantiell und was ohne Zusammenhang ist, lässt sich durch die mangelhafte Aufklärung des NSU-Komplexes und dem systematische Vernichten von Akten bei Verfassungsschutz und anderen Behörden kaum noch nach prüfen. Abgeordnete aus Untersuchungsausschüssen, genauso wie seriöse Journalisten bezweifeln aber, dass Michèle Kiesewetter ein Zufallsopfer gewesen ist.

Auch beim Mord an Michèle Kiesewetter finden sich dieselben Merkmale, die sich durch den gesamten NSU-Komplex ziehen. Rassismus in der Ermittlungsarbeit. Grobe Fehler und Pannen bei den Sicherheitsbehörden. Und später der Versuch, all das zu vertuschen.

Wir erneuern deswegen ein weiteres mal unsere Forderung nach der Aufklärung des NSU-Komplexes. Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden. Wir rufen auf zur Solidarität mit den Hinterblieben und Betroffenen des NSU-Terrors.

Michèle Kiesewetter war das letzte Mordopfer des NSU.

Ich bitte euch um einen Moment der Stille für Michèle Kiesewetter.