Kein Vergessen – Kein Vergeben. Zum Gedenken an Mehmet Kubaşık 2020

Zum Gedenken an Mehmet Kubaşık, Ermordet vom NSU, 04. April 2006, Dortmund.
Wir erinnern an Mehmet Kubaşık, weil seine Mörder aus Jena kamen. Sie haben sich hier kennengelernt, sind hier zur Schule gegangen, haben hier Einrichtungen der Jugendarbeit nutzen können und sich nicht zuletzt auf eine Gesellschaft verlassen können, die ihrer rassistischen und rechten Gewalt weitgehend gleichgültig gegenüberstand.
Normalerweise würden wir heute eine Kundgebung an der Holzskulptur in der Johannisstraße abhalten. Die aktuelle Situation macht das nicht möglich. Wir nutzen deshalb soziale Medien, um die Erinnerung an Mehmet Kubaşık wachzuhalten. Wir haben die Kommentarfunktion deaktiviert, weil sich dort in der Vergangenheit entwürdigende Kommentare über die vom NSU Ermordeten und ihre Hinterbliebenen gesammelt haben. Dafür wollen wir keine Plattform bieten.
Es ist der 04. April 2006, heute vor 14 Jahren. Mehmet Kubaşık weckt seine Tochter Gamze. Danach geht er in seinen Kiosk in der Dortmunder Mallinckrodtstraße und Frühstückt dort mit seiner Frau Elif. Es wird der letzte Tag in seinem Leben sein. Vermutlich gegen 12:55 Uhr betreten die Neonaziterroristen des NSU das Geschäft und ermorden ihn sofort mit zwei Schüssen in den Kopf. Zwei weitere Kugeln verfehlen ihr Ziel. Später findet eine Kundin den Leichnam von Mehmet Kubaşık hinter dem Tresen.
Gamze Kubaşık, die Tochter von Mehmet Kubaşık hat im Verfahren vor dem Oberlandesgericht in München und in Interviews Auskunft darüber gegeben, wie sich der Mord an ihrem Vater und seine Folgen auf die Familie ausgewirkt haben. Wie sie selbst immer wieder von Angstzuständen hatte und sich nicht mehr aus dem Haus traute. Wie sich der jüngere Bruder auf dem Schulhof prügelte weil andere die Familie Kubaşık als keine „gute Familie“ bezeichnet haben. Wie „Männer in weißen Anzügen im Schlafzimmer der Eltern waren und Hunde an den Sachen herumschnüffelten“. Das Getuschel und Gerede in der Umgebung. Wie immer wieder der Verdacht auf Drogenhandel oder zur PKK konstruiert wurde. Wie Konten und Telefon überprüft wurden. Wie die ganze Familie Speichelproben abgeben musste. Wie ihr Aussagen, die sie im Schock am Tatort getätigt hatte später als „verdächtiges Wissen“ vorgehalten wurden. Wie dem Vater Verhältnisse mit anderen Frauen oder Beziehungen zur Mafia unterstellt wurden. Wie auf der Straße mit Fingern auf sie gezeigt wurde. Wie Verwünschungen gegen die Kubaşık-Kinder ausgestoßen wurden. Wie die angstvolle Ungewissheit darüber, wer hinter dem heimtückischen Anschlag stecken könnte, der ganzen Familie den Boden unter den Füßen weg gezogen hat.
Aber es gab Hinweise auf den rassistischen Hintergrund der Tat. Eine Passantin z. B., die der Polizei zwei Personen am Tatort beschreibt, die sie eingeschüchtert haben und die sie als „Junkies oder Nazis“ identifiziert hat. Ebenso hat die Familie Kubaşık auf einen möglicherweise rechten Hintergrund der Tat hingewiesen. All das hat die Ermittler aber nicht interessiert. Stattdessen schloss der leitende Staatsanwalt damals, Zitat: „dass es sich um einen Schlusspunkt unter einer Auseinandersetzung zwischen Gewerbetreibenden handelt.“ Dass Mehmet Kubaşık ermordet wurde, weil er selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen war, war für die Ermittler der einzig mögliche Schluss.
Dortmund war und ist ein Zentrum der rechten Szene. In einem Netzwerk aus Kameradschaften, Rechtsrockbands und rechten Hooligans gab es dort auch eine Combat-18 Zelle, deren ideologischer Unterbau dem des NSU entspricht. Das Kerntrio des NSU hatte in seinem Versteck auffällig viele Ausspähnotizen zu Dortmund. Darauf befanden sich Adressen türkischer Imbisse oder Kioske, zu denen Ortsfremde nicht leicht Zugang gehabt hätten. Auch bei diesem Mord in Dortmund haben die Neonaziterroristen des NSU den Tatort und ihr Opfer gezielt ausgekundschaftet. Sie haben den Zeitraum abgepasst, in dem Mehmet Kubaşık im Laden war und nicht seine Frau Elif.
Für die Hinterbliebenen von Mehmet Kubaşık ist das Aufklärungsversprechen, dass ihnen die Bundeskanzlerin 2012 gegeben hat bis heute nicht erfüllt. Elif Kubaşık hat vor dem Münchener Oberlandesgericht ihrem Zorn darüber Ausdruck verliehe. Warum genau mein Mann? Warum Dortmund? Gab es Helfer? Leute, die ich heute noch sehe? „Frau Merkel hat ihr Versprechen nicht gehalten“.
Wir erneuern deswegen ein weiteres mal unsere Forderung nach der Aufklärung des NSU-Komplexes. Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden. Wir rufen auf zur Solidarität mit den Hinterblieben und Betroffenen des NSU-Terrors.
Elif Kubaşıks hat am Ende ihrer Rede im NSU-Prozess noch etwas anderes gesagt: Diejenigen, die die Verbrechen begangen hätten, sollten nicht denken – nachdem sie neun Menschen ermordet haben – „dass wir dieses Land verlassen werden“. „Ich lebe in diesem Land und das ist mein Land, ich habe in diesem Land zwei Kinder zur Welt gebracht, mein Enkel ist hier geboren. Wir sind ein Teil dieses Landes und werden hier weiterleben.“
Ich bitte euch um einen Moment der Stille für Mehmet Kubaşık.