Kein Vergessen – Kein Vergeben. Zum Gedenken an İsmail Yaşar & Anschlag Keupstrasse

Jena, 09.06.2019

Es ist der 09. Juni 2005, heute vor 14 Jahren. İsmail Yaşar steht hinter dem Tresen seines Imbisses an der Nürnberger Scharrerstraße. Gegenüber befindet sich eine Schule, die auch sein Sohn besucht. Die Schüler sind häufig Gäste im Geschäft. Es wird er letzte Tag im Leben von İsmail Yaşar sein. Die Neonaziterroristen des NSU ermorden ihn mit fünf Schüssen. Der erste Schuss streift ihn am rechten Ohrläppchen, als er noch hinter dem Tresen steht. İsmail Yaşar versucht daraufhin in Deckung zu gehen und wird von einer Kugel in die rechte Wange getroffen. Zum Schluss, als er am Boden liegt, schießen ihm seine Mörder noch dreimal in die Brust.

Nach der Tat ermittelt die Polizei wie bei den anderen Verbrechen des NSU auch. Man geht davon aus, dass der Ermordete mit dem organisierten Verbrechen zu tun gehabt haben muss. Zunächst betreibt die Polizei den Imbiss erstmal weiter. Die Beamten verkaufen Dürüm aus Putenfleisch, als sei nichts geschehen. Sie erhoffen sich, auf diese Weise wichtige Erkenntnisse zu gewinnen. Erkenntnisse, dass es sich bei dem Imbiss von İsmail Yaşar um einen Drogenumschlagplatz handelte. Dass sie dabei keine relevanten Erkenntnisse gewinnen, hat einen einfachen Grund. İsmail Yaşar war kein Drogenhändler, sondern Gastronom.

Die Ermittler mutmaßten – in Zusammenarbeit mit dem BKA sowie den Mordkommissionen in Hamburg und München – Verbindungen der Ermordeten der Mordserie zu türkischen Drogenhändlern aus den Niederlanden. Möglicherweise hätten die Geschäftsräume bzw. Verkaufsstände der Ermordeten als Drogen-Anlaufstellen gedient. Belastbare Hinweise über diese rassistische Grundannahme hinaus hat es nie gegeben. Auch Motive im familiären, im politischen sowie im religiösen Bereich wurden intensiv geprüft, ebenso wie Schutzgeld-Erpressung und Glücksspiel-Schulden.

Der Mord an İsmail Yaşar war wie kein zweiter in der Mordserie umgeben von zahlreichen, brauchbaren Zeugenaussagen. Eine Frau beispielsweise hatte die zwei Rechtsterroristen mit Fahrrädern in derNähe des Imbisses von İsmail Yaşar gesehen. Später erkannte sie die beiden auf Videoaufnahmen aus Köln wieder, die ihr die Polizei vorspielte. Dort hatten die Neonazis ein Jahr vorher eine Nagelbombe in der Kölner Keupstraße gezündet.

Mindestes 5,5 Kilogramm Schwarzpulver und rund 800 Zimmermannsnägeln hatten die Rechtsterroristen zu einer Bombe verbaut, die dann auf den Gepäckträger eines Fahrrads montiert, um es schlussendlich vor dem dem Friseurladen Kuaför Özcan abzustellen. Dann warten sie gezielt, bis zwei migrantische Männer an dem Fahrrad vorbeilaufen und zünden die Bombe. Insgesamt werden 22 Menschen verletzt und ganze Hausfassaden zerstört. Das niemand stirbt, ist nur dem Zufall zu verdanken. Die beiden Männer, die zum Zeitpunkt der Zündung der Bombe am nächsten waren, werden zunächst verdächtigt sie gelegt zu haben. Sie hätten, so die Ermittler, die Zündung lediglich zu früh getätigt.

Die beiden waren Freunde und wussten nach dem Anschlag lange nichts vom Überleben des jeweils anderen, da die Ermittler die Kommunikation unterbunden haben. Beide tragen bis heute sichtbare und unsichtbare Spuren der Nazibombe mit sich herum.

Die Polizei überprüft während ihrer Ermittlungen per Rasterfahndung alle 25- bis 35-jährigen Männer im Viertel. Sie hält rivalisierende türkische und kurdische Gruppen für mögliche Täter und platziert deshalb verdeckte Ermittler in der Keupstraße. Die Bewohner weisen die Polizei zwar mehrfach daraufhin, dass der Anschlag möglicherweise in einem Zusammenhang zu den Serienmorden an kurdischen und türkischen Geschäftsleuten in Deutschland stehe oder die Täter ein fremdenfeindliches Motiv gehabt haben könnten, doch diese Ansätze werden kaum aufgegriffen. Auch ein Vergleich mit dem 2001 verübten Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse auf das
Lebensmittelgeschäft einer deutsch-iranischen Familie verläuft ergebnislos. Heute wissen wir, auch dieser Anschlag ist von den Neonaziterroristen des NSU verübt worden.

Wenn die Polizei einzelne Ermittlungsansätze ins rechte Milieu hatte, sind die schnell zu den Akten gelegt worden. So gibt es beispielsweise eine Expertise des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die Parallelen zu einem Anschlag der Neonazigruppe Combat 18 in London. Diese wird aber nicht weiterverfolgt. Der damalige Innenminister verkündete, Zitat „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu (…)“. Jahre später, nach der Selbstaufdeckung des NSU entschuldigt er sich dafür.

Ein Ermittlungsansatz, der gründlicher verfolgt wird, führt nach München. Eine Hellseherin hatte sich telefonisch gemeldet. Zwei Beamte reisten dann zu ihr, um sich dort Zitat „Stimmen aus dem Jenseits“ anzuhören.

Für die Ermittler jedoch war ein Zusammenhang zwischen den beiden Taten und der Aussage der Zeugin wie Zitat, „Äpfel und Birnen“. Mehr noch, aus dem Zitat „Das ist er!“, mit dem die Zeugin einen der beiden Täter im Video identifiziert hatte, machten die Beamten im Protokoll, dass die Zeugin Zitat „ziemlich sicher“ gewesen sei.

Ein weiteres mal zeichnet sich das selbe Bild. Ein rassistischer Mord. Ermittler die den Rassismus nicht sehen wollen und stattdessen eigenen rassistischen Bauchgefühlen folgen. Eine Aufarbeitung, die viel zu spät und viel zu unzureichend geschieht.

Wir erneuern deswegen ein weiteres mal unsere Forderung nach der Aufklärung des NSU-Komplexes. Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden. Wir rufen auf zur Solidarität mit den Hinterblieben und Betroffenen des NSU-Terrors.

İsmail Yaşar hat mehr als die Hälfte seines Lebens in Deutschland verbracht. Er kam 1978 hier her und arbeitete als Schweißer bis er sich 1999 mit dem Imbiss in der Scharrer-Straße selbstständig gemacht hat.

Zwei Tage vor seiner Ermordung hat İsmail Yaşar noch mit seiner Mutter telefoniert. Er wolle zurückkehren, hatte er ihr gesagt. Nach achtundzwanzig Jahren in Deutschland hatte er endlich genug Geld verdient, er hatte Sehnsucht nach seiner Heimat und seiner Familie.

İsmail Yaşar wollte am 15. Juni 2005 zurück in seinem Geburtsort Suruç
sein. Sechs Tage vorher wurde er ermordet.

Ich bitte euch um einen Moment der Stille für İsmail Yaşar.