Kein Vergessen – Kein Vergeben. Zum Gedenken an Habil Kılıç – 2020

Jena, 29.08.2020

Es ist der 29. August 2001, heute vor 19 Jahren. Habil Kılıç spannt die grüne Markise vor dem Lebensmittelladen, den er mit seiner Frau betreibt. Es ist ein heißer Sommertag und die Ware muss vor der Sonne geschützt werden. Habil Kılıç ist an diesem Tag alleine im Geschäft, seine Frau Pinar befindet sich grade im Urlaub in der Türkei.
Es ist später Vormittag, als die Neonaziterroristen des NSU das Geschäft der Familie Kılıç betreten. Habil Kılıç steht grade hinter der Theke. Der Mord geschieht schnell. Wahrscheinlich sieht Habil Kılıç nicht einmal die Waffe, mit dem ihm seine Mörder zweimal in den Kopf schießen. Später wird ihn eine Kundin finden, aber für Hilfe ist es bereits zu spät. Habil Kılıç stirbt während er Rettungsbemühungen. Die Blutlache müssen die Frau und 12-jährige Tochter von Habil Kılıç später eigenhändig beseitigen. Das Geschäft danach weiterzuführen ist für Pinar Kılıç unerträglich, genauso wie die Wohnung die sich direkt daneben befindet. Die Familie steht vor den Trümmern ihrer Existenz.

Die Mordkommission ermittelte währenddessen unter dem selbstgewählten Namen „Halbmond“ im deutsch-türkischen Milieu, es geht um PKK und Graue Wölfe, um Glücksspiel, Drogen, Prostitution. Für Hinweise aus der türkischen Bevölkerung hat eine Hotline mit einem Tonband eingerichtet. Die Wohnung der Kılıçs wird mit Drogenspürhunden durchsucht. Zeugenaussagen zweier Frauen, die zur Tatzeit nur wenige Häuser weiter wohnten sind allerdings nicht ausermittelt worden. Beide beobachteten zwei männliche Radfahrer. Darauf im Prozess vor dem Münchner OLG angesprochen sagt der leitende Ermittler: „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass es sich bei ihnen um die Täter handelt, (…) es kam immer wieder auf den Bereich OK. Als ein Nebenklageanwalt weiter nachfragt, warum nicht nach rechts ermittelt wurde, antwortet der Polizist: „Jetzt soll man mal bitte nicht so tun, als ob es keine türkische Drogenmafia gibt.“

Pinar Kılıç hat den Laden aufgegeben, ebenso die alte Wohnung auf, an ihrer neuen Arbeitsstelle sei sie schikaniert worden, erzählt sie. In der Schule sei ihre Tochter als Sicherheitsrisiko“ angesehen worden.Die Direktorin habe ihr nahegelegt, die Tochter woanders unterrichten zu lassen.

Beim Mord an Habil Kılıç zeigt sich wieder einmal das monströse Ausmaß des NSU-Komplexes. Neonazis ermorden einen Menschen und der Staat ermordet ihn ein weiteres mal. Es reicht nicht, dass er tot ist. Sein Andenken wird in den Schmutz gezogen. Sein Ruf ruiniert. Sein Leben durchleuchtet, weil der Grund für seine Ermordung in ihm selber liegen muss. Die hinterbliebenen erhalten einen Schlag ins Gesicht nach dem anderen. Es reicht nicht, dass ihr Ehemann, ihr Vater ermordet wurde. Sie müssen auch ertragen, dass ihr Ruf in den Schmutz gezogen wird. Sie müssen ertragen, dass sie zu Ausgestoßenen werden. Nichts ertragen müssen hingegen die Neonaziterroristen und deren Unterstützer. Die können sich bis heute in weiten Teilen sicher fühlen, weil der Staat ihnen nie wirklich das Handwerk legen wollte. Man hat immer nur so viel getan, so viel nach rechts ermittelt, wie man unter öffentlichem Druck musste. Das Verfahren vor dem Münchner Oberlandesgericht war erkennbar geprägt vom unbedingten Willen, ein Urteil zu erreichen, nicht jedoch, den NSU-Komplex auszuermitteln. Viel zu viel bleibt bis heute im Dunkeln. Viel zu viele Unterstützer und Mittäter sind davongekommen. Viel zu viele staatliche Akteure in Politik und Ermittlungsbehörden müssen sich ihrem Versagen bis heute nicht stellen.

Wir erneuern deswegen ein weiteres Mal unsere Forderung nach der Aufklärung des NSU-Komplexes. Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden. Wir rufen auf zur Solidarität mit den Hinterbliebenen und Betroffenen des NSU-Terrors.

Habil Kılıç war die vierte von mindestens zehn vom NSU ermordeten Personen. Er hinterließ seine Frau und eine Tochter. Wir bitten euch um einen Moment der Stille für Habil Kılıç.