Es ist der 25. April 2007, heute vor 18 Jahren. Ein ausgesprochen warmer Frühlingstag. Michèle Kiesewetter hätte eigentlich Nachtschicht gehabt. Sie hatte ihren Dienst jedoch auf eigenen Wunsch mit einem Kollegen getauscht.
Gegen Mittag wird es Zeit für eine Pause. Michèle Kiesewetter parkt ihren Streifenwagen bei der Heilbronner Theresienwiese. Sie und ihr Kollege Martin A. öffnen die Türen, wohl wegen der Hitze. Es werden die letzten Momente in Michèle Kiesewetters Leben sein. Gegen 14 Uhr nähern sich zwei Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrundes dem Fahrzeug von hinten. Michèle Kiesewetters Kollege hat sie vermutlich grade noch kommen sehen. Er dreht seinen Kopf so, dass er schwer verletzt mit dem Leben davon kommt und wochenlang im Koma liegen wird. Einen Teil des Projektils trägt er bis heute in seinem Kopf. Michèle Kiesewetter überlebt den Mordanschlag der Neonaziterroristen nicht.
Lange Zeit fahndeten die Behörden unter Sinti*zze und Rom*nja nach den Tätern, die sich am Tag der Tat als Landfahrer in der Nähe aufgehalten hatten. In Vermerken der Ermittlungsakte der Polizei werden rassistische und antiziganistische Vorurteile bedient. Ein Beispiel dafür ist, dass Angehörige dieser Gruppe, Zitat: „typischerweise lügen würden“. An einem verdächtigen Roma wurde ein sogenannter Lügendetektortest durchgeführt. Die Psycholog*innen hielten daran fest, dass der Mann, Zitat „ein typischer Vertreter seiner Ethnie“ sei, was bedeute, dass, Zitat: „die Lüge ein wesentlicher Bestandteil seiner Sozialisation“ sei.
Der Mord an Michèle Kiesewetter ist wie kein Zweiter im NSU-Komplex von Verschwörungstheorien umgeben. Warum wurde Michèle Kiesewetter ermordet? Sie passt nicht in das rassistische Muster des NSU. Für den Schluss, es habe sich um eine reine Waffenbeschaffung gehandelt, gibt es zu viele Ungereimtheiten.
Michèle Kiesewetter hatte vor ihrer Ermordung an zahlreichen Einsätzen teilgenommen, die im Zusammenhang mit Veranstaltungen der extrem rechten Szene standen. Eine Videoaufnahme, die zwei Tage nach dem Mord entstanden ist, zeigt ein Graffito mit dem Kürzel NSU beim Tatort. Ihr Patenonkel sah bereits acht Tage nach der Tat bei einer polizeilichen Befragung eine Verbindung zu den, Zitat: „Türkenmorden“. Eine Polizistin berichtet 2014 davon, dass sie von zwei Männern bedroht worden sei, sich besser nicht zu sehr an bestimmte Dinge bezüglich der Mordermittlung zu erinnern. Kollegen von Michèle Kiesewetter waren beim Ku-Klux-Klan aktiv, ebenso wie ein Neonazi V-Mann des Verfassungsschutzes aus dem Umfeld des NSU. Der Vorgesetzte von Michèle Kiesewetter ist Mitbegründer von Uniter. Dieser Verein wiederum ist Teil des rechtsextremen Hannibal-Netzwerks, einem Zusammenschluss von Neonazis und Neurechten aus der Bundeswehr und den Sicherheitsbehörden. In diesem sollen bewaffnete Umsturz- genauso wie Mordpläne gegen politische Gegner*innen geschmiedet worden sein.
Was von dem eben Gesagten jedoch substantiell und was ohne Zusammenhang ist, lässt sich durch die mangelhafte Aufklärung des NSU-Komplexes und dem systematischen Vernichten von Akten bei Verfassungsschutz und anderen Behörden kaum noch nachprüfen.
Abgeordnete aus Untersuchungsausschüssen, genauso wie seriöse Journalist*innen bezweifeln aber, dass Michèle Kiesewetter ein Zufallsopfer gewesen ist.
Auch beim Mord an Michèle Kiesewetter finden sich dieselben Merkmale, die sich durch den gesamten NSU-Komplex ziehen. Rassismus in der Ermittlungsarbeit. Grobe Fehler und Pannen bei den Sicherheitsbehörden. Später dann der Versuch, all das zu vertuschen.
Wir erinnern deshalb heute an die Ermordung von Michèle Kiesewetter.
Wir erinnern daran, dass der NSU-Komplex bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist.
Wir erinnern daran, dass bis heute nicht alle Unterstützer*innen bekannt sind, geschweige denn angeklagt wurden.
Wir erinnern daran, dass das Vernichten der Akten des Verfassungsschutzes keine Konsequenzen hatte.
Und wir erinnern daran, dass die Akteur*innen aus der rechten Szene, den Ermittlungsbehörden und dem Verfassungsschutz nicht zur Verantwortung gezogen wurden.
Wir erneuern deswegen ein weiteres Mal unsere Forderung:
Der NSU-Komplex muss restlos aufgeklärt werden!
Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und der Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden.
Das sind wir den Opfern, ihren Familien und den Betroffenen schuldig.
Michèle Kiesewetter war das letzte Mordopfer des NSU. Sie wurde 22 Jahre alt.
Ich bitte euch um einen Moment der Stille für Michèle Kiesewetter.