Wir sind heute zusammengekommen, um zu gedenken. Heute jährt der Mord an İsmail Yaşar zum 20., der Bombenanschlag in der Keupstraße, Köln, bei dem 22 Menschen verletzt wurden, zum 21. Mal. Diese beiden niederträchtigen Gewalttaten wurden durch Mitglieder des NSU verübt und durch kollektives Versagen deutscher Behörden bis heute nicht vollständig aufgearbeitet.
Es ist der 09. Juni 2004, heute vor 21 Jahren.
Mindestes 5,5 Kilogramm Schwarzpulver und rund 800 Zimmermannsnägeln hatten die Rechtsterroristen zu einer Bombe verbaut. Diese hatten sie auf den Gepäckträger eines Fahrrads montiert, um es vor dem Friseurladen Kuaför Özcan in der Kölner Keupstraße abzustellen. Dann warten sie gezielt, bis zwei
migrantisierte Männer an dem Fahrrad vorbeilaufen und zünden die Bombe.
Insgesamt werden 22 Menschen verletzt und ganze Hausfassaden zerstört. Das niemand an diesem Tag stirbt, ist nur dem Zufall zu verdanken.
Die beiden Männer, die zum Zeitpunkt der Zündung der Bombe am nächsten waren, werden zunächst verdächtigt, sie gelegt zu haben. Sie hätten, so die Ermittler*innen, die Zündung lediglich zu früh getätigt. Die beiden waren Freunde und wussten nach dem Anschlag lange nichts vom Überleben des jeweils anderen, da die Ermittler*innen die Kommunikation unterbunden haben. Beide tragen bis heute sichtbare und unsichtbare Spuren der Nazibombe mit sich herum.
Ein weiterer Mann, der sich zum Zeitpunkt der Explosion im Friseurladen befindet, ist Atilla Özer. Die Zimmermannsnägel treffen ihn am Oberkörper und Kopf, im Nacken und an den Armen. Auch wenn die äußeren Wunden heilten, blieben seelische und körperliche Narben. Seine Frau Candan Özer sagte in einem Interview über die zeit danach: „Atilla alterte schnell. Er hatte Angstzustände, eine generelle Unruhe, Agression. Dazu kamen unzählige Vernehmungen durch die Polizei. Er verlor den Boden unter den Füßen, wie er selbst sagte.“ Vor dem Anschlag führte er eine kleine Sicherheitsfirma. Nach dem Anschlag ging Stück für Stück die Lebensqualität zurück.
Mit der Firma wollte keiner mehr zusammenarbeiten. Ein ständiges Misstrauen aufgrund der polizeilichen Ermittlungen zerstörte den Freundeskreis. Atilla verlor das Vertrauen in sich. Er entwickelte eine Depression, weil er sich zunehmend nutzlos vorkam. 2008 heiraten er und Canvan. 2010 kommt ein gemeinsamer Sohn zur Welt. Canvan sagt dazu: “Ich habe ihn nur für kurze zeit super glücklich erlebt. Das war die erste Zeit, in der unser Sohn zur welt gekommen ist. Da habe ich ihn wirklich lachen sehen, seine Augen haben gelacht. Aber derAlltag holt dich wieder ein.“ Atilla nahm Medikament gegen die psychischen und körperlichen Folgen des Anschlags. Doch sie lindern nur, sie heilen nicht.
Am 23. September 2017 ist Atila Özer mit 43 Jahren an den Spätfolgen des Anschlags in der Keupstraße verstorben.
Die Polizei überprüft während ihrer Ermittlungen per Rasterfahndung alle 25- bis 35-jährigen Männer im Viertel. Sie hält rivalisierende türkische und kurdische Gruppen für mögliche Täter und platziert deshalb verdeckte Ermittler in der Keupstraße. Die Bewohner*innen der Keupstraße weisen die Polizei zwar mehrfach daraufhin, dass der Anschlag möglicherweise in einem Zusammenhang zu den Serienmorden an kurdischen und türkischen
Geschäftsleuten in Deutschland stehe oder die Täter ein fremdenfeindliches Motiv gehabt haben könnten. Diese Ansätze jedoch werden kaum aufgegriffen. Auch ein Vergleich mit dem 2001 verübten Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse auf das Lebensmittelgeschäft einer deutsch-iranischen Familie verläuft ergebnislos. Heute wissen wir, auch dieser Anschlag ist von den
Neonaziterroristen des NSU verübt worden. Wenn die Polizei einzelne Ermittlungsansätze ins rechte Milieu hatte, sind die
schnell zu den Akten gelegt worden. So gibt es beispielsweise eine Expertise des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die Parallelen zu einem Anschlag der Neonazigruppe Combat 18 in London sieht. Diese wird aber nicht weiterverfolgt. Der damalige Innenminister verkündete, Zitat „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu
(…)“. Jahre später, nach der Selbstaufdeckung des NSU entschuldigt er sich dafür.
Es ist der 09. Juni 2005, ein Jahr nach dem Bombenanschlag in der Keupstraße, heute vor 20 Jahren.
İsmail Yaşar steht hinter dem Tresen seines Imbisses an der Nürnberger Scharrerstraße. Gegenüber befindet sich eine Schule, die auch sein Sohn besucht. Die Schüler*innen sind häufig Gäste im Geschäft. Es wird der letzte Tag im Leben von İsmail Yaşar sein. Die Neonaziterroristen des NSU ermorden ihn mit fünf Schüssen. Der erste Schuss streift ihn am rechten Ohrläppchen, als er noch hinter dem Tresen steht. İsmail Yaşar versucht in Deckung zu gehen
und wird von einer Kugel in die rechte Wange getroffen. Zum Schluss, als er am Boden liegt, schießen ihm seine Mörder noch dreimal in die Brust. Nach der Tat ermittelt die Polizei wie bei den anderen Verbrechen des NSU. Man geht davon aus, dass der Ermordete mit dem organisierten Verbrechen zu tun hätte. Zunächst betreibt die Polizei den Imbiss erstmal weiter. Die Beamt*innen verkaufen Dürüm aus Putenfleisch, als sei nichts geschehen. Sie erhoffen sich, Beweise zu finden, dass es sich bei dem Imbiss von İsmail Yaşar um einen Drogenumschlagplatz handelte. Das sie dabei keine relevanten Erkenntnisse gewinnen, hat einen einfachen Grund.
İsmail Yaşar war kein Drogenhändler, İsmail Yaşar war Gastronom. Die Ermittler*innen, die mit dem BKA sowie den Mordkommissionen in Hamburg und München zusammenarbeiten, mutmaßten Verbindungen der Ermordeten zu türkischen Drogenhändlern aus den Niederlanden aufdecken zu können. Möglicherweise hätten die Geschäftsräume bzw. Verkaufsstände der Ermordeten als Drogen-Anlaufstellen gedient. Belastbare Hinweise über diese rassistische Grundannahme hinaus hat es nie gegeben. Auch Motive im familiären, im politischen sowie im religiösen Bereich wurden intensiv geprüft, ebenso wie Schutzgeld-Erpressung und Glücksspiel-Schulden. Der Mord an İsmail Yaşar war wie kein zweiter in der Mordserie umgeben von zahlreichen, brauchbaren Zeug*innenaussagen. Eine Frau beispielsweise hatte die zwei Rechtsterroristen mit Fahrrädern in der Nähe des Imbisses von İsmail Yaşar gesehen. Später erkannte sie die beiden auf Videoaufnahmen aus Köln wieder, die ihr die Polizei vorspielte. Dort hatten die Neonazis ein Jahr vorher eine Nagelbombe in der Kölner Keupstraße gezündet. Die Aussage der Zeugin wird jedoch heruntergespielt und die sich daraus ergebende Spur nicht richtig verfolgt. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Taten und der vorher benannten Aussage der Zeugin, dass es sich um die selben Männer handelt, war für die Ermittler*innen wie, Zitat, „Äpfel und Birnen“. Mehr noch, aus dem Zitat „Das ist er!“, mit dem die Zeugin einen der beiden Täter im Video identifiziert hatte, machten die Beamt*innen im Protokoll, dass die Zeugin Zitat „ziemlich sicher“ gewesen sei. Noch klarer, wie falsch die Ermittlungen liefen, zeigt auf, was für ein Ermittlungsansatz gründlicher verfolgt wird: Eine Hellseherin hatte sich telefonisch aus München gemeldet. Zwei Beamte reisten zu ihr, um sich dort Zitat „Stimmen aus dem Jenseits“ anzuhören.
İsmail Yaşar hat mehr als die Hälfte seines Lebens in Deutschland verbracht. Er kam 1978 hier her und arbeitete als Schweißer bis er sich 1999 mit dem Imbiss in der Scharrer-Straße selbstständig gemacht hat. Zwei Tage vor seiner Ermordung hat İsmail Yaşar noch mit seiner Mutter telefoniert. Er wolle zurückkehren, hatte er ihr gesagt. Nach achtundzwanzig Jahren in Deutschland hatte er endlich genug Geld verdient, er hatte Sehnsucht nach seiner Heimat und seiner Familie. İsmail Yaşar wollte am 15. Juni 2005 zurück in seinem Geburtsort Suruç sein. Sechs Tage vorher wurde er ermordet. İsmail Yaşar wurde 50 Jahre alt und hinterlässt seine Familie mit Mutter, Frau und zwei Kindern.
Wir erinnern deshalb heute an die Ermordung von İsmail Yaşar und an die Betroffenen des Anschlags in der Keupstraße. Wir erinnern daran, dass der NSU-Komplex bis heute nicht vollständig aufgeklärt ist.
Wir erinnern daran, dass bis heute nicht alle Unterstützer*innen bekannt sind, geschweige denn angeklagt wurden.
Wir erinnern daran, dass das Vernichten der Akten des Verfassungsschutzes keine Konsequenzen hatte.
Und wir erinnern daran, dass die Akteur*innen aus der rechten Szene, den Ermittlungsbehörden und dem Verfassungsschutz nicht zur Verantwortung gezogen wurden.
Wir erneuern deswegen ein weiteres Mal unsere Forderung:
Der NSU-Komplex muss restlos aufgeklärt werden!
Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und der Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden. Das sind wir den Opfern, ihren Familien und den Betroffenen schuldig.
Ich bitte euch um einen Moment der Stille für İsmail Yaşar, Atilla Özer und die Betroffenen des Anschlags in der Kölner Keupstraße.
Das Kerntrio des NSU kam aus Jena. Die Mörder von İsmail Yaşar und mindestens 9 weiteren Menschen haben sich hier kennengelernt, sind hier zur Schule gegangen, haben hier Einrichtungen der Jugendarbeit nutzen können und sich nicht zuletzt auf eine Gesellschaft verlassen können, die ihrer rassistischen und rechten Gewalt weitgehend gleichgültig gegenüberstand.
Auch deshalb liegt es in unserer Verantwortung als Menschen dieser Stadt eine Erinnerung und Erinnerungskultur für die Opfer des NSU zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Wir werden nicht vergeben was geschehen ist, wir werden nicht vergessen. Wir wollen eine Situation schaffen, in der es unmöglich ist, dass sowas nochmal geschieht. Doch leider müssen wir einsehen, dass es bis
dahin noch ein weiter Weg sein wird.
Wir laden Euch ein, am kommenden Freitag, dem 13. Juni um 16 Uhr, wieder hier gemeinsam zu gedenken. Es ist der 24. Jahrestag des Mords an Abdurrahim Özüdoğru.