Es ist der 06. April 2006, heute vor 19 Jahren. Halit Yozgat gibt seiner Mutter nachmittags Geld, damit sie ein Geschenk kaufen kann. Sein Vater Ismail Yozgat hat am nächsten Tag Geburtstag. Danach übernimmt er den Dienst im Internetcafé der Familie in der Holländischen Straße in Kassel. Wenn seine Eltern zurück sind, will er noch in die Abendschule. Es wird der letzte Tag in seinem Leben sein. Zwischen 16:54 und 17:03 Uhr betreten die Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds das Geschäft. Sie ermorden ihn mit zwei Schüssen in den Kopf. Er stirbt in den Armen seines Vaters, der kurz darauf zurück ins Geschäft kommt.
Sein Vater beschreibt, wie die Zeit danach für die Familie war: „Fünfeinhalb Jahre haben wir uns nicht getraut hinauszugehen als Familie! Alle haben uns feindselig angeschaut, Deutsche wie Türken. Alle fragten: Warum haben sie deinen Sohn getötet – wegen Haschisch? Heroin? Wegen der Mafia?“
Die später eingesetzte Ermittlungseinheit der Polizei, suchte zunächst vor allem Verbindungen zwischen den Opfern der Mordserie. Ermittelt wurde vorrangig in Richtung Waffen- oder Drogenhandel und Spiel- oder Wettschulden. Man ging von der Möglichkeit aus, Zitat: „dass die Opfer in Verbindung mit türkischen Drogenhändlern aus den Niederlanden standen.“ Auch eine operative Fallanalyse, in der als Motiv der angenommenen zwei Täter Türkenhass vermutet wurde, lenkte die Ermittlungen nicht in die entsprechende Richtung. Sie löste sogar Widerspruch aus. Auch der Vater von Halit Yozgat hat gegenüber der Polizei betont, dass es einen ausländerfeindlichen Hintergrund geben muss und die eigene Familie unschuldig ist.
Bereits kurz nach der Tat stellte sich heraus, dass ein V-Mann-Führer des Hessischen Verfassungsschutzes zur Tatzeit im Internetcafé anwesend war. Andreas Temme.
Später zeigt sich: Er war dort sogar Stammgast und traf sich dort häufig mit V-Leuten aus der Naziszene. Er hat zunächst versucht, seine Anwesenheit während des Mordes zu verschleiern und behauptet bis heute, von alledem nichts mitbekommen zu haben. Die Aufnahmen einer Überwachungskamera überführten ihn. Ebenso kam ein forensisches Gutachten zu dem Ergebnis, dass Temme die Schüsse gehört, das Blut auf dem Tresen und den im Sterben liegenden Halit Yozgat gesehen haben muss. Auch ein 2015 öffentlich gewordener Originalmitschnitt eines abgehörten Telefonats, das Temme mit einem anderen Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes führte, belastet ihn massiv. Temme war demnach 2006 vorab über den Mord an Halit Yozgat informiert. Er hatte konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Opfer und den Tätern erhalten und sich deshalb in dem Internetcafé aufgehalten. Die Reaktion seines Gesprächspartners fiel denkbar zynisch aus: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, dann bitte nicht vorbeifahren.“ Als sich die Polizei dann an das hessische Innenministerium wendet, um die V-Personen Temmes direkt zu befragen, lehnte der damalige Innenminister Volker Bouffier das ab. Volker Bouffier war bis Mai 2022 Ministerpräsident von Hessen. Bisher wurde alle Ermittlungsverfahren gegen Andreas Temme eingestellt.
Und es gibt weitere Indizien, die auf mehr Mittäter*innen schließen lassen. So wurde in der Zwickauer Wohnung des NSU-Kerntrios nach der Selbstenttarnung eine Skizze des Internetcafés der Yozgats gefunden. Das lässt auf Helfer*innen vor Ort schließen. Diese sind in der Neonazi-Szene in Kassel zu vermuten. Und viele der Personen, die hier auffällig sind, tauchen im Jahr 2019 in Verbindung mit einem Fall mit vielen Ähnlichkeiten auf: Dem Mord an Walter Lübcke.
Die Neonaziszene in Kassel war nicht sonderlich groß und von V-Personen deutscher Behörden durchsetzt. Einer der Köpfe dieser Szene ist Benjamin G. Dieser war nicht nur eine Kontaktperson von Andreas Temme, sondern führte eine Stunde vor dem Mord an Halit Yozgat ein auffällig langes Telefonat mit ihm.
Doch in diese Richtung wurde, wie auch bei anderen Nazis, nie richtig ermittelt.
Dabei gab es direkte Bezüge: G. war über Nazikreise mit M.K. bekannt. Dieser wohnte nur zwei Häuser neben dem Internetcafé und war als gewalttätiger Nazi auch polizeilich bekannt. Obwohl er dann auch noch im Rahmen einer Funkzellenabfrage auftauchte, wurde er zu seinem eigenen Erstaunen nie von Ermittlungsbehörden vernommen.
Auch zwei weitere Nazis fallen in Bezug auf den Mord an Halit Yozgat auf, weil sie ihn persönlich kannten.
Da ist Markus H. Dieser war im Prozess um den Mord an Walter Lübcke wegen Beihilfe angeklagt, kam aber mit einem milden Urteil wegen unerlaubten Waffenbesitzes davon. Nach dem Mord an Halit Yozgat fiel den Ermittlungsbehörden auf, dass er ungewöhnlich häufig eine Seite aufrief, die über den Mord und die Ermittlungen informierte. Daraufhin wurde er zwar vorgeladen, aber nach der Beantwortung von vier Fragen war die Vernehmung beendet und die Spur wurde zu den Akten gelegt.
Obwohl er bekanntermaßen zum Kern der Neonaziszene in Kassel gehörte, wurde dazu gar nichts gefragt. Selbst nach der Selbstenttarnung des NSU wurde zu ihm nicht ermittelt.
Und auch Corynna G. wirft Fragen auf. Sie war häufig im Internetcafé der Yozgats. Sie kannte als zentrales Bindeglied der Naziszenen Thüringens und Nordhessens nicht nur die Jenaer Naziszene, sondern höchstwahrscheinlich auch das NSU-Kerntrio persönlich. Als sie zeitweilig im Gefängnis war, bot sie sich dem Hessischen Verfassungsschutz als Informantin an. Ob dieses Angebot bei Temme oder seinen Vorgesetzten landete ist unklar. Was dagegen klar ist: Knapp eine Woche nach ihrer Entlassung aus der Haft wurde Halit Yozgat ermordet. Und als gesichert kann gelten: Corynna G. kannte den Dortmunder Nazi Siegfried Borchardt. Sie führte wahrscheinlich eine Beziehung mit ihm. Das ist umso auffälliger, weil zwei Tage vor dem Mord an Halit Yozgat in ihrer Heimatstadt Kassel Mehmet Kubaşık in Dortmund ermordet wurde. Auch dort liegen Verbindungen von NSU-Kerntrio und der Tat in die lokale Naziszene auf der Hand. Einer der führenden Köpfe dort war: Siegfried Borchardt.
Bis heute sind also die Umstände des Mordes an Halit Yozgat und die Rolle von Andreas Temme sowie dem hessischen Verfassungsschutz nicht aufgeklärt. Ein interner Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz zu den Vorgängen wurde zunächst mit einer Sperrfrist von 120 Jahren versehen. Erst nach viel öffentlicher Kritik und einer Klage zweier Journalisten wurde diese auf 30 Jahre reduziert. Im Oktober 2022 wurde ein Teil der Akten öffentlich zugänglich gemacht. Sie enthalten einen internen Bericht über das Vorgehen des hessischen Verfassungsschutzes und legen nochmals dessen Versagen bei Ermittlungen in der rechtsextremen Szene und seine Zusammenarbeit mit dieser offen.
Ismail Yozgat hat bei einer Gedenkfeier 2012 drei Wünsche vorgetragen. Erstens hofft er, dass die Mörder, ihre Hintermänner und ihre Helfershelfer gefasst und verurteilt werden. Zweitens bittet er darum, die Holländische Straße in Kassel, der Ort von Geburt und Tod seines Sohnes, nach diesem zu benennen. Inzwischen ist ein Platz nach Halit Yozgat benannt. Und drittens regte er im Gedenken an die zehn Getöteten die Gründung einer Stiftung an, die krebskranken Menschen hilft.
Wir erinnern deshalb heute an die Ermordung von Halit Yozgat und auch an die weiteren Menschen, die bis heute durch Rassismus gefährdet sind und denen wirksamer Schutz durch den Staat verweigert wird.
Wir erinnern daran, dass bis heute der NSU-Komplex nicht vollständig aufgeklärt ist.
Wir erinnern daran, dass bis heute nicht alle Unterstützer*innen bekannt sind, geschweige denn angeklagt wurden.
Wir erinnern daran, dass bis heute das Vernichten der Akten des Verfassungsschutzes keine Konsequenzen hatte.
Und wir erinnern daran, dass bis heute die Akteure aus der rechten Szene, den Ermittlungsbehörden und dem Verfassungsschutz nicht zur Verantwortung gezogen wurden.
Wir erneuern deswegen ein weiteres Mal unsere Forderung:
Der NSU-Komplex muss restlos aufgeklärt werden!
Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden.
Das sind wir den Opfern, ihren Familien und den Betroffenen schuldig.
Halit Yozgat war das letzte Opfer der rassistischen Česká-Mordserie des NSU.
Er wurde 1985 in Kassel geboren. Heute vor 19 Jahren wurde er vom NSU in Kassel ermordet. Er wurde 21 Jahre alt und hinterlässt seine Familie.
Ich bitte euch um einen Moment der Stille für Halit Yozgat.Das Kerntrio des NSU kam aus Jena.
Die Mörder von Halit Yozgat und mindestens neun weiteren Menschen haben sich hier kennengelernt.
Sie sind hier zur Schule gegangen.
Sie haben hier die Einrichtungen der Jugendarbeit nutzen können.
Und sich nicht zuletzt auf eine Gesellschaft verlassen können, die ihrer rassistischen und rechten Gewalt weitgehend gleichgültig gegenüberstand.
Auch deshalb liegt es in unserer Verantwortung als Menschen dieser Stadt, eine Erinnerung und Erinnerungskultur für die Opfer des NSU zu schaffen und aufrechtzuerhalten.
Wir wollen eine Realität schaffen, in der es unmöglich ist, dass so was nochmal geschieht. Wir müssen einsehen, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist. Aber wir werden nicht vergeben, was geschehen ist. Wir werden nicht vergessen. Wir werden jeden Tag weiter dafür kämpfen, bis alle Forderungen erfüllt sind.
Danke, dass ihr heute mit uns an Halit Yozgat gedacht habt. Wir laden Euch ein, am. 25.04.2025 wieder hier um 16:00 Uhr gemeinsam zu gedenken. Es ist der 18. Jahrestag der Ermordung von Michèle Kiesewetter.