Gedenken 2025 Enver Şimşek

Wir sind heute zusammengekommen um Enver Şimşek zu gedenken, der heute vor 25 Jahren durch den NSU in Nürnberg-Langewasser ermordet wurde.

Enver Şimşek wird 1961 geboren. Mit 23 Jahren kommt er Mitte der ’80er Jahre nach Deutschland, wo seine Frau damals schon seit einiger Zeit lebt. Er arbeitet dann in einer Fabrik und montiert Autoteile. Einige Zeit später macht er sich mit einem Blumenhandel im hessischen Schlüchtern selbstständig, baut diesen zu einem Großhandel auf. Seine Frau Adile und er bekommen eine Tochter, Semiya, und einen Sohn, Abdulkerim.

Es ist der 09.September 2000. An diesem Tag, heute vor 25 Jahren, wird Enver Şimşek mit 8 Schüssen in seinem Lieferwagen an einem mobilen Blumenstand in Nürnberg-Langwasser niedergeschossen. Zwei Tage später stirbt er an den Folgen der schweren Verletzungen ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben

Was wir heute wissen, ist, dass dies der mutmaßlich erste Mord des NSU war.

Die Täter*innen kommen von hier. Sie haben sich hier, in Jena, radikalisiert. Ihre Namen sind hinlänglich bekannt. Über sie werden wir hier kein weiteres Wort verlieren. Wir stehen heute hier, um gemeinsam an Enver Şimşek zu erinnern. Um ihm zu gedenken.

Es ist der letzte Samstag der Sommerferien in Bayern. Aus dem hessischen Schlüchtern ist Enver Şimşek am frühen Morgen angereist, um frische Blumensträuße zu seinem Verkaufsstand in der Liegnitzer Straße in Nürnberg zu bringen. Er betreibt seit mehreren Jahren einen Blumengroßhandel mit einem Ladengeschäft in seinem Wohnort Schlüchtern und verschiedenen mobilen Verkaufsständen. Normalerweise liefert er die Blumen aus. Da sein Mitarbeiter noch im Urlaub ist, übernimmt Enver Şimşek an diesem sonnigen Spätsommertag auch den Verkauf in Nürnberg. Am Nachmittag kann ein Kunde den Blumenhändler nicht finden. Die herbeigerufene Polizei findet den schwerst Verletzten auf der Ladefläche seines Lieferwagens, der an der stark befahrenen Ausfallstraße steht. Er atmet schwer, mehrere der 8 Pistolenkugeln haben ihn am Kopf getroffen.

12 Stunden später wird die 14-jährige Tochter Semiya Şimşek im Internat geweckt. Es ist 4 Uhr morgens. Enver sei krank, sie müsse zu ihm ins Krankenhaus nach Nürnberg. Ein Cousin ihres Vaters und ein guter Bekannter der Familie bringen sie dorthin. Noch sind keine anderen Verwandten vor Ort. Sie erfährt, dass ihr Vater nicht krank ist, sondern schwer verwundet.

Irgendwann bringt sie eine Krankenpflegerin zur Intensivstation. Doch sie darf noch nicht zu ihrem Vater, der im Sterben liegt. Ein Polizist fragt nach Feinden und ob er Waffen besessen hätte. Dann endlich darf sie ihn sehen. Er hängt mit Schläuchen an verschiedenen Geräten. Sie ist 14 Jahre alt und muss den schlimmen Anblick ohne ihre Mutter ertragen. Denn sie wird noch mehrere Stunden auf diese warten müssen. Ihr 13-jähriger Bruder Abdulkerim kommt am Mittag ins Krankenhaus, mittlerweile sind auch weitere Verwandte und Bekannte da. Am Nachmittag kann dann endlich auch Adile Şimşek zu Enver ins Krankenhaus kommen. Sie konnte nicht früher da sein, weil sie stundenlang von der Polizei verhört wurde. Einen Tag später stirbt Enver Şimşek im Krankenhaus an den schweren Verletzungen.

Die folgenden Ermittlungen sind geprägt von falschen Verdächtigungen, gezielten Lügen und rassistischen Annahmen zum Hintergrund der Tat. Enver Şimşek wird eine Beteiligung an organisierter Kriminalität und Drogenhandel unterstellt. Seine Familie wird mit diesem Verdacht, der sich auf keinerlei Beweise stützt, konfrontiert. Seiner Frau wird das Foto einer fremden Frau mit der Aussage vorgelegt, dass diese die Geliebte von Enver sei, mit der er auch zwei Kinder habe.
Mit dieser Lüge soll Adile Şimşek dazu gebracht werden, gegen ihren Mann auszusagen. Die Loyalität zu ihrem ermordeten Ehemann soll gebrochen werden. Doch: Adile Şimşek hat nichts auszusagen. Enver Şimşek führte kein Doppelleben. Er trägt keine Verantwortung dafür, dass er ermordet wurde. Ermordet wurde er aus rassistischen Gründen. Doch statt jemals ernsthaft zu untersuchen, ob nationalsozialistische Ideologie die Tat erklärt, wird über Jahre versucht, das Tatmotiv in einer unterstellten kriminellen Tätigkeit des Ermordeten zu finden. Dafür finden sich keine Anhaltspunkte, aber das hält die Ermittler*innen nicht davon ab, diese Ermittlungsansatz weiter zu verfolgen. Statt den Rassismus hinter der Tat zu sehen, folgen sie rassistischen Vorannahmen. Selbst als mit derselben Waffe weitere von Rassismus betroffene Menschen ermordet werden, schaffen es die Ermittlungsbehörden nicht, die Tat aufzuklären oder das Tatmotiv richtig zu erkennen. Hinweisen, welche in diese Richtung gehen, wird nur kurz nachgegangen. Sie werden jedoch nicht ernsthaft verfolgt und schlussendlich zur Seite gelegt.

Gedenken bedeutet immer auch Erinnern.

Wir erinnern deshalb heute an die Ermordung von Enver Şimşek, und auch an die weiteren Menschen, die bis heute durch Rassismus gefährdet sind und denen wirksamer Schutz durch den Staat verweigert wird.

Wir erinnern daran, dass bis heute der NSU-Komplex nicht vollständig aufgeklärt ist.

Wir erinnern daran, dass bis heute nicht alle Unterstützer*in bekannt sind, geschweige denn angeklagt wurden.

Wir erinnern daran, dass bis heute das Vernichten der Akten des Verfassungsschutzes keine Konsequenzen hatte.

Und wir erinnern daran, dass bis heute die Akteur*innen aus der rechten Szene, den Ermittlungsbehörden und dem Verfassungsschutz nicht zur Verantwortung gezogen wurden.

Wir erneuern deswegen ein weiteres Mal unsere Forderung:

Der NSU-Komplex muss restlos aufgeklärt werden!

Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden.

Das sind wir den Opfern, ihren Familien und den Betroffenen schuldig.

Enver Şimşeks großer Traum war es, irgendwann einmal wieder in Salur, seinem Heimatdorf in der Türkei zu leben. 1999 war er dort noch im Urlaub gewesen. Als Enver und Semiya dort nachts auf dem Balkon saßen, als sie die Glöckchen der aus den Bergen zurückkehrenden Schafe hörten, spürte sie, wie glücklich er in diesem Augenblick war.

Enver Şimşek liegt heute in Salur begraben. Er wurde 38 Jahre alt und hinterlässt seine Frau und seine zwei Kinder.

Ich bitte euch um einen Moment der Stille für Enver Şimşek.

Das Kerntrio des NSU kam aus Jena.

Die Mörder von Enver Şimşek und mindestens 9 weiteren Menschen haben sich hier kennengelernt.

Sie sind hier zur Schule gegangen.

Sie haben hier Einrichtungen der Jugendarbeit nutzen können.

Und sich nicht zuletzt auf eine Gesellschaft verlassen können, die ihrer rassistischen und rechten Gewalt weitgehend gleichgültig gegenüberstand.

Auch deshalb liegt es in unserer Verantwortung als Menschen dieser Stadt eine Erinnerung und Erinnerungskultur für die Opfer des NSU zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Wir werden nicht vergeben, was geschehen ist, wir werden nicht vergessen.

Wir wollen eine Situation schaffen, in der es unmöglich ist, dass so was nochmal geschieht. Doch leider müssen wir einsehen, dass es bis dahin noch ein weiter Weg sein wird.