Wir sind heute zusammengekommen um Mehmet Turgut zu gedenken, der am 25.02.2004, heute vor 21 Jahren, durch den NSU in Rostock ermordet wurde.
Es ist der 25. Februar 2004, heute vor 21 Jahren.
Mehmet Turgut unterstützt einen Freund in Rostock. Es wird der letzte Tag in seinem Leben sein.
Mehmet Turgut hat sich bereit erklärt, den Imbiss des Freundes am Vormittag zu öffnen. Er räumt die Planen vor den Fenstern beiseite und stellt Mülltüten bereit. Er
schneidet das Gemüse und schaltet die Kaffeemaschine an. Zwischen 10:10 und 10:20 Uhr betreten die Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrundes den Laden. Sie bringen Mehmet Turgut zu Boden, fixieren ihn und ermorden ihn mit aufgesetzten Schüssen in Hals, Nacken und Kopf.
Der Freund und Ladenbesitzer findet Mehmet Turgut später und hält ihn in den Armen, als dieser die letzten Momente um sein Leben ringt.
Mehmet Turguts Bruder Mustafa hat später für das Buch „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“ festgehalten, wie seine Familie die Zeit danach erlebt
hat. Daraus möchten wir euch jetzt einen Auszug wiedergeben:
»Was dann folgte, war ein Albtraum für unsere Familie. Die Zeit der Gerüchte im Dorf begann. Einige sagten zu meinem Vater: „Dein Sohn hat in Deutschland bestimmt Drogen verkauft.“Andere meinten: „Das hatte etwas mit Frauen zu tun.“ Wieder andere behaupteten: „Das war Haydars Schuld“ – die Schuld des Imbissbesitzers. Er habe meinen Bruder umbringen lassen. Einige sagten sogar: „Ihr habt euren Sohn selbst umgebracht.“ Das war ungeheuer verletzend. Irgendwann kam dann auch die deutsche Polizei. Die Beamten kamen nicht in unser Dorf. Sie haben nicht meine Eltern befragt. Sie fragten im Nachbardorf herum: Hatten die Turguts Feinde? Gab es einen Anhaltspunkt für Blutrache? Niemand hat uns geglaubt, dass das völliger Unsinn war. Das war das Schlimmste. Die deutsche Polizei hat unsere ganze Familie schlechtgemacht, indem sie in der Gegend nach uns fragte. Sie hat die Gerüchte zusätzlich angeheizt. Die Verdächtigungen nahmen ein solches Ausmaß an, dass es die Familie fast zerstört hätte. Irgendwann hat mein Vater entschieden, aus seinem Heimatdorf wegzuziehen. Er hat ein Grundstück in Elazığ gekauft und dort ein Haus gebaut. Er hat es so gebaut, dass er keine Nachbarn mehr hatte. Mit dem Umzug wollte er auch meine Mutter entlasten. Denn sie ist weiterhin jeden Tag zu Mehmets Grab gegangen. Natürlich haben wir damals auch überlegt, dass es Rechtsradikale gewesen sein könnten, die Mehmet ermordet haben. Wir hatten doch keine Feinde in der Türkei, und Mehmet hatte sich in Deutschland nichts zuschulden kommen lassen. Mein Vater hatte zuvor ja auch einige Zeit in Deutschland gearbeitet. Er kannte Ausländerfeindlichkeit. Er war sich sicher: Das waren bestimmt die Kahlköpfe. Dann hat wieder mein Cousin aus Deutschland angerufen und gesagt: „Die Polizei sagt Nein. Es gibt keine Hinweise, dass es Rechtsradikale keine waren.“ Wir hatten keine andere Erklärung, doch keiner hat uns geglaubt. Das was das Schlimmste. Nur mein Vater war sicher: Es waren die Neonazis und eines Tages kommt die Wahrheit heraus.«
Die Ermittlungen der Polizei folgten ausschließlich dem Schwerpunkt der organisierten Kriminalität. Schon kurz nach der Tat ließen sie in einer Pressemitteilung verlauten, dass, Zitat ‚Ein ausländerfeindlicher Hintergrund ausgeschlossen werden könne.‘
Wie bei allen Morden wiederholt sich hier das Muster des Versagens der deutschen Ermittlungsbehörden.
Ebenso war das bundesweite Netzwerk der Neonazis am Mord an Mehmet Turgut beteiligt. Der Imbiss, in dem er aushalf, war an diesem Tag ab 10 Uhr geöffnet. Die Täter müssen das gewusst haben, denn sie waren bereits kurze Zeit später zur Stelle. Ebenso war der Imbiss keiner, über den man zufällig stolpern konnte.
Viel mehr lag er so in einer Nebenstraße, dass nur Ortskundige ihn kannten und zu Stoßzeiten besuchten.
Der Tatort und die Tatzeit müssen gezielt ausgekundschaftet und ausgewählt worden sein.
Wer dem NSU-Kerntrio dabei geholfen hat, ist bis heute nicht aufgeklärt. Auch nach der Selbstenttarnung der Neonaziterrorist*innen wollten deutsche Behörden und Gerichte davon nichts wissen.
Deutschland hat auf ganzer Linie versagt. Mehmet Turgut war Kurde. Er ist vor Gewalt und Unterdrückung aus der Türkei hierher geflohen. Hier hat ihm der deutsche Staat immer wieder Schutz verweigert, ihn kriminalisiert und später nach seiner Ermordung ein letztes Mal im Stich gelassen. Das steht im krassen Gegensatz zu dem deutschen Traum, den Mehmet Turgut hatte und den sein Bruder Mustafa beschreibt:
„Deutschland war wie ein Sog für ihn. Er hatte keine Arbeitserlaubnis dort, keine Aufenthaltserlaubnis. Er wurde abgeschoben und kehrte doch immer wieder dorthin zurück. Ich glaube, dass es ihm nicht sehr gut ging dort. Und doch bedeutete Deutschland für ihn Hoffnung.“
Wir erinnern deshalb heute an die Ermordung von Mehmet Turgut und auch an die weiteren Menschen, die bis heute durch Rassismus gefährdet sind und denen wirksamer Schutz durch den Staat verweigert wird.
Wir erinnern daran, dass bis heute der NSU-Komplex nicht vollständig aufgeklärt ist.
Wir erinnern daran, dass bis heute nicht alle Unterstützer*innen bekannt sind, geschweige denn angeklagt wurden.
Wir erinnern daran, dass bis heute das Vernichten der Akten des Verfassungsschutzes keine Konsequenzen hatte.
Und wir erinnern daran, dass bis heute die Akteure aus der rechten Szene, den Ermittlungsbehörden und dem Verfassungsschutz nicht zur Verantwortung gezogen
wurden.
Wir erneuern deswegen ein weiteres Mal unsere Forderung:
Der NSU-Komplex muss restlos aufgeklärt werden!
Verantwortliche aus der rechten Szene, dem Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden müssen zur Verantwortung gezogen werden.
Das sind wir den Opfern, ihren Familien und den Betroffenen schuldig.
Ich bitte euch um einen Moment der Stille für Mehmet Turgut.
Das Kerntrio des NSU kam aus Jena.
Die Mörder von Mehmet Turgut und mindestens neun weiteren Menschen haben sich hier kennengelernt.
Sie sind hier zur Schule gegangen.
Sie haben hier die Einrichtungen der Jugendarbeit nutzen können.
Und sich nicht zuletzt auf eine Gesellschaft verlassen können, die ihrer rassistischen und rechten Gewalt weitgehend gleichgültig gegenüberstand.
Auch deshalb liegt es in unserer Verantwortung als Menschen dieser Stadt,
eine Erinnerung und Erinnerungskultur für die Opfer des NSU zu schaffen und aufrechtzuerhalten.
Wir wollen eine Realität schaffen, in der es unmöglich ist, dass so was nochmal geschieht. Wir müssen einsehen, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist.
Aber wir werden nicht vergeben, was geschehen ist. Wir werden nicht vergessen.
Wir werden jeden Tag weiter dafür kämpfen, bis alle Forderungen erfüllt sind.
Danke, dass ihr heute mit uns an Mehmet Turgut gedacht habt.
Wir laden Euch ein, am. 04.04.2025 wieder hier um 16:00 Uhr gemeinsam zu gedenken.
Es ist der 19. Jahrestag der Ermordung von Mehmet Kubaşik.